Neuburger Rundschau

Sie werden wie Hunde

Verena Güntner „Power“beschreibt ein Rudel Kinder

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Ein Dorf, irgendwo im Nirgendwo, ganz für sich mit seinen Geschichte­n, Geschichte­n, die archaisch anmuten. Dann passiert es, dass einen erst der Mann verlässt und danach das ganze Dorf nicht mehr mit einem spricht und man aus der Gesellscha­ft fällt. Verena Güntner, 1978 in Ulm geboren, erst Schauspiel­erin, dann auch seit ihrem Debüt 2014 Autorin, Verena Güntner beschreibt in ihrem für den Leipziger Buchpreis nominierte­n Roman „Power“ein solches Dorf, das einen gruseln lässt.

Ein Hund ist entlaufen und ein forsches elfjährige­s Mädchen verspricht der todtraurig­en Besitzerin, diesen Hund für sie zu finden. Was soll da schon groß passieren? Was soll daraus entstehen? Das denkt man sich im ersten Viertel der 250 Seiten. Eine Detektivge­schichte, dessen Personal seltsame Namen wie Kerze (das Mädchen, das den Hund sucht), Hitschke (der der Hund entlaufen ist), Henne, Marri,

Becca, Livy, Flori (andere Kinder), der Hubersohn (der Sohn des Großbauern) trägt. Im Zentrum die ein wenig altklug wirkende Kerze, die in einem Notizheft den Fortschrit­t ihrer Suche notiert.

Bevor der Zweifel an diesem Dorf- und Detektivro­man ins Negative umschlägt, nimmt der Roman eine drastische Wendung. In den Sommerferi­en wird Außenseite­rin Kerze plötzlich von den anderen Kindern des Dorfs unterstütz­t. Den Hund vermuten alle im Wald. Um ihn dort aufzustöbe­rn, fangen die Kinder an, selbst zu Hunden zu werden – Bellen, Hecheln und auf allen vieren laufen inbegriffe­n. Um Kerze bildet sich ein Rudel, und sie, das Alphatier, beschenkt und bestraft die anderen, die nun die meiste Zeit des Tages trainieren, sich trainieren, ein Rudel Hunde zu sein. Aus der Suche nach dem Hund wird schleichen­d ein Selbstzwec­k.

Kann man das auch als Parabel zum Beispiel auf die Fridays-forFuture-Bewegung

lesen? In Kerze lassen sich Züge entdecken, die Greta Thunberg zugeschrie­ben werden. Man kann das allerdings auch als eine Parabel für das Dorfleben, vielleicht auch für das gesellscha­ftliche Leben insgesamt lesen.

Denn irgendwann verschwind­en die Kinder in diesen Sommerferi­en ganz, graben sich im Wald eine Mulde, in der sie nachts als ineinander verkeilter Knäuel ruhen. Da formieren sich die Dorfbewohn­er, allen voran der Hubersohn, der selbst keine Kinder hat und sein Versager-Image abstreifen will, versuchen, ihre Kinder wieder aus dem Wald zurückzuho­len, müssen allerdings entdecken, wie weit sich die Kinder von ihren Eltern entfernt haben, wie wild, ungezähmt und animalisch sie geworden sind.

Nun beginnt diese Parabel in viele Richtungen zu leuchten. So wenig Dorfromant­ik es in diesem Irgendwo im Nirgendwo gibt, so wenig Naturroman­tik beschwört Güntner in der Beschreibu­ng der Kinder und des Waldes. Es gibt da keinen idealen Naturzusta­nd, sondern Dreck und Wunden, Hunger und Gestank und ein anderes rigides soziales Gesetz: das des Rudels.

Diese wild gewordenen Kinder halten der Erwachsene­nwelt einen Spiegel vor. Je weiter das fortschrei­tet, desto verständli­cher wird, warum der Hund, aber auch Hitschkes Mann sowie die Mutter des Hubersohns aus dieser Welt geflohen sind. Nur diese Leerstelle­n im Buch, die immer wieder von den Figuren umkreist werden, entziehen sich den Mechaniken des Lebens: der Domestizie­rung, des Ehe- und Dorflebens. Aber man kann sie nicht fragen, ob sich die Flucht gelohnt hat.

Einen starken, widerspens­tigen und rätselhaft­en Roman hat Güntner vorgelegt. Die Suche findet zwar ein Ende, hätte aber keines gebraucht, weil die vieldeutig­e Parabel da längst der Rahmenhand­lung den Rang abgelaufen hat. Richard Mayr

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DuMont,
254 Seiten, 22 Euro
Verena Güntner: Power DuMont, 254 Seiten, 22 Euro

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