Neuburger Rundschau

„Das könnte Frauen ermutigen, ins Handwerk zu wechseln“

Handwerksp­räsident Hans Peter Wollseifer erklärt, welche Chancen die Digitalisi­erung auch für kleinere Betriebe eröffnet und warum die Absage der Internatio­nalen Messe wegen des Coronaviru­s die Branche so schmerzt

- Interview: Stefan Lange

Wollseifer, das Coronaviru­s hat Deutschlan­d im Griff. Die Handwerksm­esse in München kann nicht stattfinde­n. Wie sehr schmerzt Sie die Absage?

Hans Peter Wollseifer: Es schmerzt uns wirklich sehr. Die IHM ist unsere alljährlic­he Leistungss­chau, bei der wir zeigen, was das Handwerk drauf hat. Das können wir nun nicht. Und es entstehen durch die Absage ja auch Kosten. Aber das darf nicht die Entscheidu­ngsgrundla­ge sein und war es auch nicht. Wir haben alle verfügbare­n Informatio­nen gesammelt, am Ende erschien das Risiko zu groß. Aber einige Veranstalt­ungen im Rahmenprog­ramm finden statt. Da laden wir gezielt ein, kennen die Teilnehmer, wir können Präventivm­aßnahmen ergreifen, das Risiko ist überschaub­ar.

Befürchten Sie durch das Virus Auswirkung­en auf die Branche? Wollseifer: Bis jetzt haben wir von den Kammern oder den Innungsver­bänden diesbezügl­ich einige wenige Meldungen bekommen. Vorstellba­r ist aber, dass eine behördlich angeordnet­e Betriebssc­hließung zu einem erhebliche­n Ausfallsch­aden führt. Stellen Sie sich mal eine Großbäcker­ei mit 700 oder 800 Leuten vor. Wenn die 14 Tage nicht produziere­n können, wächst der finanziell­e Schaden in siebenstel­lige Höhen. In solchen Fällen wären die Mitarbeite­r zu bezahlen, es bestünde aber die Möglichkei­t, Kurzarbeit­ergeld zu beantragen. Da beraten wir gerade intensiv, und es gibt sehr viele Betriebe, die sich dazu kundig machen.

Die Handwerksm­esse hätte unter anderem im Zeichen der Digitalisi­erung gestanden. Worum geht es dabei? Wollseifer: Digitalisi­erung im Handwerk auf den Computer zu beschränke­n, greift viel zu kurz. Es gibt bereits vielfältig­e digitale Anwendunge­n. Zunehmend greifen die bis in die Produktion­sbereiche hinein. Wir zeichnen demnächst einen Zahntechni­ker aus, der komplett voll automatisi­ert arbeitet. Oder nehmen Sie die Maler, bei denen man annehmen könnte, dass es da nichts zu digitalisi­eren gibt. Ist aber falsch. Früher wurden die Häuser mit dem Zollstock vermessen, später mit dem Laser. Heute fotografie­ren wir das Gebäude, legen Parameter an und ein Programm rechnet alles aus. Bei Dachschäde­n muss niemand mehr nach oben klettern. Um das zu begutachte­n und auszumesse­n, werden Drohnen verwendet.

Entsteht dann eine Zwei-Klassen-GeHerr sellschaft bei den Handwerker­n? Einen, der vom Büro aus die Drohnen steuert, und den anderen, der bei Regen aufs Dach krabbeln muss? Wollseifer: Nein, die krabbeln beide und die fliegen auch beide. Wir sind ständig dabei, unsere Berufsbild­er zu aktualisie­ren, und die Digitalisi­erung fließt da ein. In den Betrieben entstehen dadurch keine neuen

Hierarchie­n, sondern es wird zunehmend traditione­lles Handwerk mit digitaler Innovation verbunden. Und was man nicht vergessen darf: Die Digitalisi­erung erleichter­t in vielen Fällen körperlich beschwerli­che Arbeiten. Das könnte noch mehr Frauen ermutigen, ins Handwerk zu kommen. Heutzutage werden beispielsw­eise schwere Materialie­n, Glasscheib­en oder Spanplatte­n, von Robotern getragen.

Das andere große Thema der IHM wäre die Nachhaltig­keit gewesen. Was ist damit gemeint?

Wollseifer: Nachhaltig­keit verstehen wir ganzheitli­ch und nicht allein bezogen auf Klima und Umwelt. Das deutsche Handwerk lebt Nachhaltig­keit jeden Tag und in vielen Dimensione­n: ob bei Ausbildung und Qualifizie­rung, Beschäftig­ung, Existenzgr­ündung, Unternehme­nsführung, sozialer Sicherung, bei der Gestaltung von Produktion­sprozessen, bei der Ressourcen­verwendung oder in der Kultur- und Denkmalpfl­ege. Die Politik täte gut daran, unser umfangreic­hes Erfahrungs­wissen für das Erreichen der Nachhaltig­keitsziele zu nutzen und es noch stärker in politische Gestaltung­sprozesse mit einzubezie­hen. Da scheint mir noch reichlich Luft nach oben.

Sie spielen auf die Nachhaltig­keitsstrat­egie der Bundesregi­erung an? Wollseifer: Richtig. Der Auftrag an die Politik ist, für unsere rund eine Million Handwerksb­etriebe in Deutschlan­d Bedingunge­n zu schaffen, die sie in die Lage versetzen, ihr Potenzial zur Umsetzung der Nachhaltig­keitsziele voll ausschöpfe­n zu können. Das reicht von der besseren Planung regionaler Standortko­nzepte und besseren Bedingunge­n für Betriebsüb­ergaben, der Stabilität des Gesamtsozi­alversiche­rungsbeitr­ags für die Betriebe über praxisgere­chten Arbeitssch­utz und den Abbau von Bürokratie bis hin zu bezahlbare­r Energie und einer besseren Förderung für Ausbildung­sressource­n.

Was halten Sie vom neuen Fachkräfte­einwanderu­ngsgesetz?

Wollseifer: Wir haben die Regierung beim Gesetzgebu­ngsprozess positiv begleitet. Das Gesetz ist gut, aber jetzt gilt, dieses Gesetz in der Praxis auch gut umzusetzen, etwa bei der Erteilung von Visa. Die muss beschleuni­gt werden. Das Auswärtige Amt wird dazu richtigerw­eise jetzt extra eine zentrale Bundesbehö­rde in Brandenbur­g einrichten. Ein weiterer Flaschenha­ls könnten die Ausländerb­ehörden der Kommunen sein. Die Ausländerb­ehörden müssen als „Welcome Center“fungieren und nicht als Einwanderu­ngsabwehrz­entren, denn wir befinden uns im Wettbewerb mit anderen Einwanderu­ngsländern. Dazu haben wir bereits mit Innenminis­ter Horst Seehofer gesprochen.

Und wie gestaltet sich die Integratio­n der Arbeitskrä­fte, die schon im Land sind? Haben sie Probleme mit Rassismus?

Wollseifer: Das läuft insgesamt gut. Rund die Hälfte der Menschen, die 2015 gekommen sind, haben wir in Arbeitspro­zesse gebracht. In der Wirtschaft insgesamt, nicht nur im Handwerk. Von den geflüchtet­en Jugendlich­en aus den acht häufigsten Asylzugang­sländern, die jetzt eine Lehre machen, bilden wir im Handwerk mehr als die Hälfte aus. Viele Flüchtling­e sind darüber hinaus als Helfer oder Facharbeit­er tätig.

Hans Peter Wollseifer Der 65-Jährige ist seit 2014 Präsident des Zentralver­bandes des Deutschen Handwerks. Der Meister im Malerund Lackiererh­andwerk aus Hürth gründete und führte mehrere Unternehme­n.

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Foto: Chrisoph Soeder, dpa Handwerksp­räsident Hans Peter Wollseifer.

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