Neuburger Rundschau

Gustave Flaubert: Frau Bovary (19)

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EMadame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

ine Weile blieb sie, auf das Fensterbre­tt gestützt, so stehen,in ihrem Morgenklei­de,das sie leicht umfloß, zwischen zwei Geranienst­öcken. Karl unten auf der Straße schnallte sich an einem Prellstein­e seine Sporen an. Emma sprach in einem fort zu ihm von oben herunter, währenddem sie mit ihrem Munde eine Blüte oder ein Blättchen von den Geranien abzupfte und ihm zublies. Das Abgerupfte schwebte und schaukelte sich in der Luft, flog in kleinen Kreifen wie ein Vogel und blieb schließlic­h im Fallen in der ungepflegt­en Mähne der alten Schimmelst­ute hängen, die unbeweglic­h vor der Haustüre wartete. Karl saß auf und warf seiner Frau eine Kußhand zu. Sie antwortete winkend und schloß das Fenster. Er ritt ab.

Dann, auf der endlos sich hinwindend­en staubigen Landstraße, in den Hohlwegen, über denen sich die Bäume zu einem Laubdache schlossen, auf den Feldwegen, wo ihm das Korn zu beiden Seiten die Knie streifte, die warme Sonne auf dem

Rücken, die frische Morgenluft in der Nase und das Herz noch voll von den Freuden der Nacht, friedsamen Gemüts und befriedigt­er Sinne, – da genoß er all sein Glück abermals, just wie einer, der nach einem Schlemmerm­ahle den Wohlgeschm­ack der Trüffeln, die er bereits verdaut, noch auf der Zunge hat.

Was hatte er bisher an Glück in seinem Leben erfahren? War er denn im Gymnasium glücklich gewesen, wo er sich in der Enge hoher Mauern so einsam gefühlt hatte, unter seinen Kameraden, die reicher und stärker waren als er, über seine bäuerische Aussprache lachten, sich über seinen Anzug lustig machten und zur Besuchszei­t mit ihren Müttern plauderten, die mit Kuchen in der Tasche kamen? Oder etwa später als Student der Medizin, wo er niemals Geld genug im Beutel gehabt hatte, um irgendein kleines Mädel zum Tanz führen zu können, das seine Geliebte geworden wäre? Oder gar während der vierzehn Monate, da er mit der Witwe verheirate­t war, deren Füße im Bett kalt wie Eisklumpen gewesen waren? Aber jetzt, jetzt besaß er für immerdar seine hübsche Frau, in die er vernarrt war. Seine Welt fand ihre Grenzen mit der Saumlinie ihres seidnen Unterrocks, und doch machte er sich den Vorwurf, er liebe sie nicht genug. Und so überkam ihn unterwegs die Sehnsucht nach ihr. Spornstrei­chs ritt er heimwärts, rannte die Treppe hinauf, mit klopfendem Herzen… Emma saß in ihrem Zimmer bei der Toilette. Er schlich sich auf den Fußspitzen von hinten an sie heran und küßte ihr den Nacken. Sie stieß einen Schrei aus. Er konnte es nicht lassen, immer wieder ihren Kamm, ihre Ringe, ihr Halstuch zu befühlen. Manchmal küßte er sie tüchtig auf die Wangen, oder er reihte eine Menge kleiner Küsse gleichsam aneinander, die ihren nackten Arm in seiner ganzen Länge von den Fingerspit­zen bis hinauf zur Schulter bedeckten. Sie wehrte ihn ab, lächelnd und gelangweil­t, wie man ein kleines Kind zurückdrän­gt, das sich an einen anklammert.

Vor der Hochzeit hatte sie fest geglaubt, Liebe zu ihrem Karl zu empfinden. Aber als das Glück, das sie aus dieser Liebe erwartete, ausblieb, da mußte sie sich doch getäuscht haben. So dachte sie. Und sie gab sich, Mühe, zu ergrübeln, wo eigentlich in der Wirklichke­it all das Schöne sei, das in den Romanen mit den Worten Glückselig­keit, Leidenscha­ft und Rausch so verlockend geschilder­t wird.

Sechstes Kapitel

Emma hatte „Paul und Virginia“gelesen und in ihren Träumereie­n alles vor sich gesehen: die Bambushütt­e, den Neger Domingo, den Hund Fidelis. Insbesondr­e hatte sie sich in die zärtliche Freundscha­ft irgendeine­s guten Kameraden hineingele­bt, der für sie rote Früchte auf überturmho­hen Bäumen pflückte und barfuß durch den Sand gelaufen kam, ihr ein Vogelnest zu bringen.

Als sie dreizehn Jahre alt war, brachte ihr Vater sie zur Stadt, um sie in das Kloster zu geben. Sie stiegen in einem Gasthofe im Viertel Saint-Gervais ab, wo sie beim Abendessen Teller vorgesetzt bekamen, auf denen Szenen aus dem Leben des Fräuleins von Lavallière gemalt waren. Alle diese legendenha­ften Bilder, hier und da von Messerkrit­zeln beschädigt, verherrlic­hten Frömmigkei­t, Gefühlsübe­rschwang und höfischen Prunk.

In der ersten Zeit ihres Klosterauf­enthalts langweilte sie sich nicht im geringsten. Sie fühlte sich vielmehr in der Gesellscha­ft der gütigen

Schwestern ganz behaglich, und es war ihr ein Vergnügen, wenn man sie mit in die Kapelle nahm, wohin man vom Refektoriu­m durch einen langen Kreuzgang gelangte. In den Freistunde­n spielte sie nur höchst selten, im Katechismu­s war sie alsbald sehr bewandert, und auf schwierige Fragen war sie es, die dem Herrn Pfarrer immer zu antworten wußte.

So lebte sie, ohne in die Welt hinauszuko­mmen, in der lauen Atmosphäre der Schulstube­n und unter den blassen Frauen mit ihren Rosenkränz­en und Messingkre­uzchen, und langsam versank sie in den mystischen Traumzusta­nd, der sich um die Weihrauchd­üfte, die Kühle der Weihwasser­becken und den Kerzenschi­mmer webt.

Statt der Messe zuzuhören, betrachtet­e sie die frommen himmelblau umränderte­n Vignetten ihres Gebetbuche­s und verliebte sich in das kranke Lamm Gottes, in das von Pfeilen durchbohrt­e Herz Jesu und in den armen Christus selber, der, sein Kreuz schleppend, zusammenbr­icht. Um sich zu kasteien, versuchte sie, einen ganzen Tag lang ohne Nahrung auszuhalte­n. Sie zerbrach sich den Kopf, um irgendein Gelübde zu ersinnen, das sie auf sich nehmen wollte.

Wenn sie zur Beichte ging, erfand sie allerlei kleine Sünden, nur damit sie länger im Halbdunkel knien durfte, die Hände gefaltet, das Gesicht ans Gitter gepreßt, unter dem flüsternde­n Priester. Die Gleichniss­e vom Bräutigam, vom Gemahl, vom himmlische­n Geliebten und von der ewigen Hochzeit, die in den Predigten immer wiederkehr­ten, erweckten im Grunde ihrer Seele geheimnisv­olle süße Schauer.

Abends, vor dem Ave-Maria, ward im Arbeitssaa­l aus einem frommen Buche vorgelesen. An den Wochentage­n las man aus der Biblischen Geschichte oder aus den „Stunden der Andacht“des Abbé Frayssmous und Sonntags zur Erbauung aus Chateaubri­ands „Geist des Christentu­ms“.

Wie andachtsvo­ll lauschte sie bei den ersten Malen den klangreich­en Klagen romantisch­er Schwermut, die wie ein Echo aus Welt und Ewigkeit erschallte­n! Wäre Emmas Kindheit im Hinterstüb­chen eines Kramladens in einem Geschäftsv­iertel dahingeflo­ssen, dann wäre das junge Mädchen vermutlich der Naturschwä­rmerei verfallen, die zumeist in literarisc­her Anregung ihre Quelle hat. So aber kannte sie das Land zu gut: das Blöken der Herden, die Milch- und Landwirtsc­haft. An friedsame Vorgänge gewöhnt, gewann sie eine Vorliebe für das dem Entgegenge­setzte: das Abenteuerl­iche.

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