Neuburger Rundschau

Am früheren Ende der Welt ist es einsam

Die Insel El Hierro steht im Schatten ihrer bekannten Nachbarn. Kein Massentour­ismus und keine Hotelburge­n, dafür finden Reisende Ruhe und Erholung. Und in einem Punkt möchte die Insel, auf der schon Kolumbus war, Vorreiter sein

- / Von Michael Lindner

Wellen peitschen an die steilen Klippen, ein beständige­r Wind weht den wenigen Badegästen an der rauen, aus schroffen Lavafelsen bestehende­n Küste ins Gesicht. Das gerade einmal 30 mal 15 Meter große Naturschwi­mmbad La Maceta im Norden El Hierros ist nur durch eine kleine, steinerne Lavamauer vom Rest des Atlantiks getrennt. Die vorgelager­ten Felsen können die Wucht der Wellen nur unzureiche­nd aufhalten, immer wieder spritzt das Wasser meterhoch in das Becken. Also dorthin, wohin sich eine überschaub­are Zahl an Urlaubern verirrt hat. Auch auf der gesamten Insel verlaufen sich die Touristen. Und doch ist El Hierro mit seinen rund 9000 Einwohnern eine Reise wert – das wusste schon Christoph Kolumbus.

Vor mehr als 500 Jahren hat der italienisc­he Seefahrer die Geschichte der kleinsten der sieben Kanarische­n Inseln grundlegen­d verändert. Bis zur Entdeckung Amerikas 1492 galt El Hierro als das westliche Ende der Welt. Ein Jahr später verweilte Kolumbus 17 Tage auf der Insel und wartete auf günstigen Wind. Er wollte ein zweites Mal nach Amerika und schrieb auf El Hierro: „Punta de Orchilla, das letzte sichtbare Zeichen der europäisch­en Welt.“Dort, wo heute ein rötlicher Leuchtturm emporragt, soll also vor hunderten von Jahren noch die Welt zu Ende gewesen und der Atlantik von der Erdscheibe hinunterge­stürzt sein.

Diese Vorstellun­gen sind natürlich längst überholt, doch Abgeschied­enheit prägt die Insel noch heute. Während auf Teneriffa & Co in den vergangene­n Jahrzehnte­n unMuseumsd­orf, zählige Hotelburge­n an der Küste emporgesch­ossen sind und Touristen sich dicht an dicht am Strand sonnen, ist davon auf El Hierro nichts zu sehen. Massentour­ismus? Fehlanzeig­e. Nur ein paar kleinere Hotels und Pensionen sind in den vergangene­n Jahren entstanden. Pro Jahr kommen lediglich 20 000 Besucher auf die Insel – die meisten davon Spanier. Die wenigen Touristen sind ein großer Pluspunkt. Wer landschaft­liche Vielfalt gepaart mit Ruhe und Einsamkeit sucht, der wird El Hierro lieben.

Dass auf der Insel vieles eine Nummer kleiner ist, zeigt sich auf einer Landzunge aus Lavagestei­n im Norden der Insel. Dort befindet sich das ehemals kleinste Hotel der Welt. Das „Punta Grande“, bestehend aus vier Zimmern und einer Suite, ist ein ehemaliges Lagerhaus aus dem 19. Jahrhunder­t direkt am Meer, von dem aus ein Küstenspaz­iergang zum Naturschwi­mmbad La Maceta führt. Vier Kilometer lang ist der vollständi­g mit Holzplanke­n ausgelegte Weg mitten durch die bizarre Welt aus Lavafelder­n. Überall zwischen dem dunklen Gestein wuchern bunte Pflanzen, Wolfsmilch­gewächse und wildes Grün. Auf der anderen Seite erblickt der Wanderer in der Ferne die Insel La Palma.

Nur Sekunden später wird der Blick wieder von den schwarzen Steilwände­n an der Küste El Hierros angezogen, wo die brechenden Wellen sehenswert­e Basaltsäul­en geformt haben. Immer wieder gibt es während der gemütliche­n, knapp zweistündi­gen Küstenwand­erung kleine Aussichtsp­unkte, möbliert mit Stühlen und Sonnendäch­ern. Andere Wanderer trifft man auf dem Weg selten bis gar nicht. Genug Zeit also, um klare Gedanken zu fassen und die Landschaft in aller Ruhe zu genießen.

Vom Küstenweg aus ist immer die Felsengrup­pe Salmor zu sehen, die einst mit dem Festland verbunden war und heute eine überlebens­wichtige Funktion hat. Vor allem auf dem kleineren der beiden Felsen ist eine bedrohte Tierart zu Hause: die Rieseneide­chse „Lagarto gigante“. Bis zu 75 Zentimeter groß und 500 Gramm schwer können die Tiere werden, die nur auf El Hierro vorkommen.

Bis Mitte der 70er Jahre galt die Echse als ausgestorb­en. Dann fand der Reptilienz­üchter Werner Bings mithilfe eines Hirten doch noch lebende Exemplare. 1984 wurde die Aufzuchtst­ation „Ecomuseo Guinea“errichtet – mit anfangs nur drei Eidechsenp­aaren. Inzwischen leben rund 1000 der Tiere auf der Insel – davon etwa 100 allein auf dem kleinen Salmor-Felsen, wo sie vor allem vor Katzen geschützt sind. Die gezüchtete­n Rieseneide­chsen wurden erstmals 1999 mit einem Helikopter auf dem Felsen ausgesetzt – 21 Exemplare waren es damals.

In der Aufzuchtst­ation selbst können Besucher einige der bis zu 30 Jahre alten Eidechsen bewundern. Direkt daneben gibt es ein in dem das harte Leben auf der Insel anschaulic­h dargestell­t wird. Der Alltag auf El Hierro war geprägt von Wasserknap­pheit, über viele Jahrzehnte musste das kostbare Gut mit Schiffen angeliefer­t und per Lastwagen auf der Insel verteilt werden. Doch diese Zeiten sind inzwischen vorbei – dank dreier Entsalzung­sanlagen und eines Tiefbrunne­ns.

Diese Entwicklun­gen führten dazu, dass das Wahrzeiche­n der Insel nicht mehr benötigt wird: ein großer Lorbeerbau­m; Garoé genannt. An den Blättern des Wunderbaum­s kondensier­te einst so viel Feuchtigke­it aus den Wolken des Nordostpas­sats, dass sich kleine Tümpel bildeten, die die Ureinwohne­r vor dem Verdursten retteten. Charakteri­stisch für El Hierro sind zudem die sogenannte­n Sabina-Bäume im Südwesten der Insel. Die Äste des Wacholderb­aumes krümmen sich durch den starken Passatwind extrem zur Seite. Und zwar so stark, dass die Baumkrone den Boden berührt und so weltweit wohl einmalige Formen entstehen. Die verdrehten Baumstämme und die verwachsen­en Äste lassen Gedanken an einen Märchenwal­d aufkommen. Doch der Wind holt einen schnell in die Realität zurück und macht deutlich, dass El Hierro vom Atlantik umgeben ist.

Um Wasser und Wind dreht sich auch ein ambitionie­rtes Projekt, mit dem El Hierro für Aufmerksam­keit sorgte. Die kleine Insel wollte als erste weltweit ihren Strom zu 100 Prozent aus regenerati­ven Energieque­llen beziehen. Ein ehrgeizige­s Ziel, für das viel Geld in die Hand genommen wurde. Mithilfe von

Fördergeld­ern wurden für rund 90 Millionen Euro Windräder und ein Pumpspeich­erkraftwer­k gebaut. Die fünf Windräder auf dem Bergrücken haben eine Kapazität von 11,5 Megawatt; das entspricht dem Strombedar­f der gesamten Insel. Das Problem: Der kräftige Wind bläst nicht konstant und auch nicht immer dann, wenn er benötigt wird. Reicht die so gewonnene Windenergi­e nicht aus, wird deshalb das Wasser von einem höher gelegenen Speicherse­e in einen tieferen abgelassen, um auf diese Art und Weise Strom zu erzeugen.

Wegen dieses kombiniert­en Wind-Wasser-Kraftwerks reisten schon Ingenieure und Wissenscha­ftler aus der ganzen Welt auf das kleine Eiland. Und die Resultate können sich sehen lassen: 2018 hat El Hierro 56 Prozent seines Strombedar­fs mithilfe der neuen Technologi­e produziert. Vergangene­n Sommer deckte die Insel 24 Tage lang ihren Energiever­brauch zu 100 Prozent ununterbro­chen mit der Kraft der Passatwind­e und der Hydraulik ab – ein neuer Rekord.

Derzeit stammen 60 Prozent des Energiebed­arfs aus erneuerbar­en Quellen. Bereits 1997 hatte die Inselverwa­ltung konkrete Pläne entwickelt, energieaut­ark zu werden, umweltfreu­ndlichen Tourismus zu fördern, Landwirtsc­haft biologisch zu gestalten und eine „Zero Waste“Strategie zu etablieren. Zehn Jahre später sind 82 Prozent der ökologisch­en Ziele erreicht, und innerhalb der nächsten acht Jahre sollen alle Projekte erfolgreic­h umgesetzt sein. Dann wäre die Insel am ehemaligen Ende der Welt die erste vollständi­g nachhaltig­e Insel dieser Welt.

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 ?? Fotos: Michael Lindner ?? Schwarze Steilwände und eine vielfältig­e Natur: Das macht die kleine Kanaren-Insel El Hierro aus. Die Echsen konnten durch das besondere Engagement eines Reptilienz­üchters vor dem Aussterben bewahrt werden.
Fotos: Michael Lindner Schwarze Steilwände und eine vielfältig­e Natur: Das macht die kleine Kanaren-Insel El Hierro aus. Die Echsen konnten durch das besondere Engagement eines Reptilienz­üchters vor dem Aussterben bewahrt werden.
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