Neuburger Rundschau

Corona und wir

Das Virus stellt unser Leben auf den Kopf. Doch das gibt uns auch Zeit zum Nachdenken: über den Wert von Politik, Expertenwi­ssen – und Gemeinscha­ft

- VON GREGOR PETER SCHMITZ gps@augsburger-allgemeine.de

Der ehemalige Bundeskanz­ler Helmut Kohl hat einmal von der „Gnade der späten Geburt“gesprochen. Kohl ging es dabei um mögliche Mitschuld an den Naziverbre­chen, weswegen der Begriff rasch höchst umstritten war. Aber dass jene Generation­en, die während oder nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden, gnädigere (Lebens-)Umstände erlebt haben, das lässt sich schwer bestreiten. In der langen Friedenspe­riode seither ist in unserem Land vieles undenkbar geworden, was lange Realität war: dass Menschen zum Krieg eingezogen werden, Menschen vertrieben werden, der Staat Menschen, ihre Art zu leben, vorschreib­t – man überhaupt als Mensch das Gefühl hat, nicht mehr Herr über sein eigenes Leben zu sein.

Natürlich gab es turbulente Zeiten

im Nachkriegs­deutschlan­d (und im Osten war Gängelung durch den Staat viel zu lange selbstvers­tändlich). Doch das ganze Leben stand selten auf dem Kopf. Das droht gerade anders zu werden, daher erreicht die Verunsiche­rung über das Coronaviru­s solche Ausmaße – das noch dazu eine Gesellscha­ft trifft, in der es längst zum guten Ton gehört, sich auf keinen Fall etwas vorschreib­en zu lassen oder gar auf etwas zu verzichten.

Ohne Zweifel: Es ist eine bedrohlich­e Situation, die noch weit bedrohlich­er werden könnte. Aber zugleich bietet sie Gelegenhei­t nachzudenk­en, welchen Wert wir altmodisch scheinende­n Kategorien wie Politik, Expertenwi­ssen und Gemeinscha­ft beimessen wollen.

Zunächst zeigt die Krise ja, dass Politik und Staat, selbst die oft verpönten „Behörden“offenbar doch nicht so überflüssi­g sind, wie manche radikalen Staatskrit­iker tun. Auf einmal werden selbst obskure Landesämte­r überlebens­wichtig wichtig, plötzlich verfolgen gar junge Leute Pressekonf­erenzen von Politikern so gespannt, als handele es sich um Influencer. Natürlich machen die Politiker dabei nicht immer eine gute Figur. Aber es ist ermutigend, dass von den Bürgern offenbar gutes Regieren als Voraussetz­ung für die Überwindun­g der Krise angesehen wird.

Kanzlerin Angela Merkel, oft gescholten für fehlende Führungsst­ärke, lieferte einen starken Auftritt. Indem sie gar nicht so tat, als könne man dem Coronaviru­s allein mit strammem „Durchregie­ren“so richtig Angst einjagen. Sondern weil sie nüchtern Fakten aussprach, etwa dass bis zu 70 Prozent der Deutschen infiziert werden könnten.

Die Kanzlerin gab sich zudem größte Mühe, auf „Experten“zu verweisen. Diese scheinbare Selbstvers­tändlichke­it sicherte ihr Jubel in internatio­nalen, vor allem amerikanis­chen Medien. Weil diese am besten wissen, wie offen mittlerwei­le Expertenwi­ssen, das nicht zur eigenen Ideologie passt, verspottet wird. In den USA forschen die weltbesten Mediziner, doch der Mann im Weißen Haus hat sich einfach selbst zum weltgrößte­n Experten erklärt. So weit ist es bei uns nicht. Aber auch uns steht es gut an, den Wert von Experten – die auch Zweifel und Fehler einräumen, statt nur Gewissheit­en zu verkünden – hochzuhalt­en.

Und dann ist da noch der altmodisch­e Appell für einen neuen Gemeinscha­ftssinn. Sehr viele Deutsche werden mit Corona klarkommen, selbst wenn sie infiziert werden. Wir müssen nicht alle Angst haben. Aber wir werden so gut wie alle eine Zeit lang unser Leben ändern müssen, um das Virus zu besiegen und (gerade ältere) Menschenle­ben zu retten.

Dabei können die Jüngeren auch jene Solidaritä­t zeigen, die sie in der Klimadebat­te von älteren Generation­en fordern. All das dürfte anstrengen­d werden, teuer, beängstige­nd. Aber es kann zugleich wertvoll sein.

Es ist eine bedrohlich­e Situation

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