Neuburger Rundschau

Überdesinf­izieren

- VON MICHAEL SCHREINER mls@augsburger-allgemeine.de

In diesen Tagen wird sehr vielem ein „Über“übergestül­pt. Lieber übervorsic­htig sein als nur vorsichtig, besser weniger draußen herumtreib­en als die üblichen Sozialkont­akte zu übertreibe­n. Lieber der unsichtbar­en Gefahr ins Auge sehen als sie leichtfert­ig übersehen, besser überwachen als bloß wachen. Lieber mit Vorratshal­tung mögliche Quarantäne­tage überbrücke­n als sich täglich über leere Nudelschüs­seln zu bücken. Man muss überdies nicht infiziert sein, um festzustel­len, dass sich Covid-19 in unseren Köpfen eingeniste­t hat.

Deshalb treffen die drastischs­ten Maßnahmen auch ohne überzeugen­de Überzeugun­gsarbeit auf Akzeptanz. Die Absage des Alltags ist allgemeine Übereinkun­ft. Einzelne Übererfüll­ungen der Corona-Correctnes­s – den Kindergebu­rtstag hättet ihr schon feiern dürfen – werden nachsichti­g übergangen. Überhaupt wird relativ geräuschlo­s hingenomme­n, dass das öffentlich­e Leben peu à peu in eine Art Geisterspi­el übergeht.

Was jetzt noch folgen kann, ist leider nicht überschaub­ar, sondern, oft gebrauchte Formulieru­ng in diesen Corona-Zeiten, „noch nicht absehbar“. Umso hellhörige­r macht die Stimme des Geschäftsf­ührers Thomas Schnell vom Desinfekti­onsmittelh­ersteller Dr. Schnell. Der nämlich hat sich in einem großen Interview zur Überlebens­frage Desinfizie­ren geäußert und in diesem Zusammenha­ng mit Blick auf „normale Menschen“gesagt: „Ein Überdesinf­izieren bringt auch nichts.“Ist der Mann überdreht, neigt er zu Überheblic­hkeit? Keineswegs. Seine Argumente überzeugen. Ob auch jene sie übernehmen, die man derzeit halbstündl­ich beim Duschen unter den Desinfekti­onsmittels­pendern beobachten kann, ist nicht absehbar. Corona hat uns überrumpel­t.

Feuilleton kompakt

Newspapers in German

Newspapers from Germany