Geisterteilchen
Über die aufwendige Erforschung der Neutrinos
Erkenntnisse über die Dunkle Materie, über den Urknall und über eine Physik jenseits des Standardmodells der Teilchenphysik: Von der Neutrinoforschung erhoffen sich Physiker sehr viel. Neutrinos sind extrem leichte, kleine und elektrisch neutrale Teilchen, die kaum mit Materie in Wechselwirkung treten und mit nahezu Lichtgeschwindigkeit durchs All rasen: Pro Sekunde durchströmen etwa 60 Milliarden Neutrinos die Fläche eines Daumennagels.
Trotz ihrer Zahl sind diese Geisterteilchen äußerst schwer nachweisbar: Da sie nur über die schwache Kernkraft wechselwirken, müssen sie extrem nah an ein Kernteilchen eines Atoms herankommen, damit eine Kollision stattfindet – was sehr selten geschieht. Dennoch gelang es US-Physikern schon 1956, Neutrinos anhand von ihnen ausgelöster Reaktionen nachzuweisen.
1987 registrierte der japanische Neutrinodetektor Kamiokande Neutrinos einer Supernova – der Explosion eines massereichen Sterns. Von den etwa zehn Billiarden Neutrinos, die Berechnungen zufolge durch den Detektor geflogen sein müssen, traten nur zwölf in Wechselwirkung mit Atomen und wurden so nachgewiesen. Diese zwölf reichten aus, um aufgrund ihrer Eigenschaften die Temperatur im Inneren des neu entstandenen Neutronensterns auf 30 bis 50 Milliarden Grad Celsius zu schätzen.
Zu den Neutrino-Erfolgen zählt auch der Nachweis, dass die Kernfusion als Energiequelle der Sonne so abläuft, wie sie ab Ende der 1930er Jahre erdacht und berechnet wurde. „Die Reaktionsschritte konnten einer nach dem anderen exakt bestätigt werden“, sagt Christian Spiering vom Forschungszentrum Desy in Zeuthen bei Berlin. Neutrinos sind für solche Nachweise bestens geeignet, denn sie gelangen in nur zwei Sekunden vom Zentrum der Sonne bis zur Oberfläche und rasen dann mit nahezu Lichtgeschwindigkeit zur Erde. Ein Photon (Lichtteilchen) dagegen braucht zur Oberfläche der Sonne bis zu 400 000 Jahre, weil es innerhalb immer wieder abgelenkt wird.
Inzwischen misst der NeutrinoDetektor „IceCube“am Südpol etwa 100 000 Neutrinos pro Jahr. Er besteht aus mehr als 5000 lichtempfindlichen Sensoren, die tief im Eis der Antarktis einen Würfel mit der Kantenlänge von einem Kilometer bilden. Trifft ein Neutrino auf ein Atom im Eis, entsteht die bläuliche Tscherenkow-Strahlung und wird von den Lichtsensoren erfasst. Anhand der Ankunftszeit der Strahlung an verschiedenen Sensoren können die Wissenschaftler auch die Richtung berechnen, aus der das Neutrino gekommen ist – und damit die Quelle identifizieren.
Am 22. September 2017 registrierte „IceCube“ein Neutrino mit extrem hoher Energie. „Über ein Alarmsystem erhielt eine Reihe von Teleskopen und Satelliten die Information über dieses Ereignis mit der Angabe der Ursprungsrichtung“, sagt Desy-Forscher Spiering, der zur „IceCube“-Kollaboration gehört. Mehrere Einrichtungen maßen daraufhin Gammastrahlen aus einer Himmelsregion nahe dem Sternzeichen Orion. Als Quelle der Strahlen und des Neutrinos wurde TXS 0506+056 ausgemacht, eine 3,8 Milliarden Lichtjahre entfernte Galaxie mit einem supermassereichen Schwarzen Loch.
Silke Britzen vom Max-PlanckInstitut für Radioastronomie in Bonn befasst sich mit solchen aktiven galaktischen Kernen und ihren supermassereichen Schwarzen Löchern. Und mit den hochenergetischen Strahlen- und Teilchenströmen, sogenannten Jets, die sie ausstoßen. Sind die direkt auf die Erde gerichtet, sprechen Astronomen von Blazaren. Britzen las von der „IceCube“-Messung und wunderte sich, dass nur ein einzelnes Neutrino aus einem Blazar gemessen worden war. Denn allein das GammastrahlenWeltraumteleskop Fermi hat etwa 2500 Blazare vermessen.
Die energiereichen Neutrinos können nur in höchst energetischen Prozessen entstehen. In den Jets der
Blazare entstehen energiereiche Gammastrahlen, dort können auch die energiereichen Neutrinos produziert werden. Überraschend war, dass nur ein einziger dieser Blazare Neutrinos produziert. Die Frage war daher: Was macht die Quelle TXS 0506+056 so besonders, warum produziert nur sie Neutrinos?
Britzen beschloss, der Sache nachzugehen und fand schließlich Hinweise darauf, dass das Neutrino womöglich aus einer Wechselwirkung von Jetmaterial oder gar der Kollision von zwei Jets stammt und dass sich in der Quellgalaxie zwei supermassereiche Schwarze Löcher befinden, die einander umkreisen. Britzen: „Wenn wir diese Informationen mit den Daten kombinieren, die wir von erdgebundenen und Weltraum-Teleskopen erhalten, können wir astrophysikalische Phänomene mit bislang unerreichter Datenvielfalt untersuchen.“
Doch nicht nur für Astronomen, auch für Teilchenphysiker sind Neutrinos ein spannendes Forschungsgebiet. Im Jahr 1998 entdeckten Forscher sogenannte Neutrino-Oszillationen, bei denen Neutrinos ihre Identität zwischen drei Arten wechseln – und folglich eine Masse haben müssen. Diese Entdeckung, für die der Japaner Takaaki Kajita und der Kanadier Arthur McDonald 2015 den Nobelpreis für Physik erhielten, zeigte, dass das Standardmodell der Teilchenphysik nicht ganz richtig ist – denn darin hatten Neutrinos bis zu dieser Entdeckung keine Masse. Doch wie groß die Masse ist, ist noch unbekannt. Diese Frage soll das Experiment „Katrin“– Karlsruher Tritium-Neutrinoexperiment – klären. Im größten Ultrahochvakuumbehälter der Welt wird dazu die Energie der Elektronen gemessen, die aus einem radioaktiven Zerfall stammen. Und von den Erkenntnissen können dann wiederum Astronomen profitieren. Denn Neutrinos sind für ihn der einzig gesicherte Anteil an der geheimnisvollen Dunklen Materie. Und womöglich sind sie auch Botschafter aus einer sehr frühen Phase des Universums, mitunter aus den ersten Sekunden nach dem Urknall.
In Schwarze Löcher, zur Sonne und bis zum Urknall