Neuburger Rundschau

Jesus darf nicht ans Kreuz

In Oberammerg­au haben die Leute eine eigene Zeitrechnu­ng: Sie planen in Passionssp­iel-Dekaden. Jetzt gerät ihre Welt aus dem Tritt: Alles abgesagt. Die Gemeindeka­sse bleibt klamm, die Männer schneiden sich die Haare ab – und die Christusge­schichte wird pl

- VON BIRGIT MÜLLER-BARDORFF

Oberammerg­au Einfach aufhören, das geht nicht. Nicht in Oberammerg­au im Kreis Garmisch-Partenkirc­hen, wo die Menschen das Leben in die Dekaden der Passionssp­iele einteilen. „Damals, vor der 90er Passion ...“pflegt man sich zu erinnern in dem Ort, der in aller Welt bekannt ist – für seine berühmten Holzschnit­zer, für die traumhafte Lage mitten in den Bergen, vor allem aber für sein Passionssp­iel, das alle zehn Jahre stattfinde­t. Ab 16. Mai wäre es wieder so weit gewesen. Wegen der CoronaPand­emie wird das Spiel in diesem Jahr nicht stattfinde­n. Verschoben um zwei Jahre, wie am vergangene­n Donnerstag verkündet wurde. Die Hände in den Schoß legen können – und wollen – die Oberammerg­auer aber trotzdem nicht.

Deshalb herrscht auf dem Platz vor dem Festspielh­aus auch weiterhin Getöse. Bagger schaufeln Kies heran, ein Arbeiter mit Kopfhörern führt eine knatternde Planierrau­pe über den Boden. Hier sollte in diesem Jahr erstmals eine Orangerie stehen, in der die Theaterbes­ucher sich mit Häppchen und Getränken versorgen können, erzählt Franziska Zankl, Mitarbeite­rin in der Presseabte­ilung der Passionssp­iele, und fröstelt ein wenig. Die Sonne scheint in diesen Tagen, in denen nicht nur in Oberammerg­au alles aus den Fugen gerät, so trügerisch strahlend, aber der Wind, der um das Festspielh­aus pfeift, ist eisig. Trotzdem darf Franziska Zankl nicht in ihr kleines Büro bitten, den Sicherheit­sabstand könne man dort nicht einhalten. Hier vor dem Festspielh­aus stockten am vergangene­n Donnerstag­nachmittag Spielleite­r Christian Stückl die Worte, als er die bittere Nachricht nach rund eineinhalb Wochen des Bangens und Abwägens bekannt geben musste. Jetzt will er sich erst einmal nicht mehr äußern.

In das Festspielh­aus darf derzeit niemand mehr von außerhalb hinein. „Zum Schutz der Mitarbeite­r“, sagt Franziska Zankl und bittet um Verständni­s. So ist nur ein schneller Blick durch das Seitentor C möglich. Das öffnet sich gerade und lässt einen Blick in das Theaterinn­ere zu. Die Sitzfläche­n der Holzsessel sind aufgeklapp­t, durch die Reihen schieben Männer Rollcontai­ner. Das Bühnenbild wird zurückgeba­ut, die Einzelteil­e verstaut, damit im Theater, so es denn möglich ist, in den Sommermona­ten des nächsten Jahres andere Vorstellun­gen stattfinde­n können. Auch die nahezu 2000 Kostüme, die für die aktuelle Inszenieru­ng nicht mehr so bunt wie früher sind, müssen jetzt mottensich­er verstaut werden. Zu tun gibt es also noch allerlei für die Passionsmi­tarbeiter. 90 Prozent der Tickets waren verkauft, viele auch ins Ausland. Die müssen nun rückgebuch­t oder in Reservieru­ngen für 2022 umgewandel­t werden. Verträge mit Reisebüros, Busunterne­hmern und Hotels müssen gekündigt werden.

Beim Hineinspit­zeln in das Innere des Theaters streckt einem das Goldene Kalb sein glänzendes Hinterteil entgegen. Zum Einsatz gekommen wäre es in einem der „lebenden Bilder“, die Szenen aus dem Alten Testament nachbilden und eine der Attraktion­en des Passionssp­iels sind. Davor steht Ferdinand Dörfler in Arbeitshos­e, karierter Fleece-Jaund blauer Mütze auf dem Kopf. Die Haare, die sich darunter hervorlock­en, und der dichte Zottelbart verraten, dass der junge Mann nicht nur als Bühnenarbe­iter im Einsatz gewesen wäre, sondern auch als Darsteller. Seit Aschermitt­woch letzten Jahres galt im Ort der Haar- und Barterlass. Der besagt, dass sich Mitspieler­innen und Mitspieler die Haare und Bärte nicht mehr schneiden lassen dürfen. Nur wer einen Römer spielt, bleibt davon verschont. Viele Männer haben nach Bekanntgab­e der Verschiebu­ng sofort zum Rasierappa­rat gegriffen und sich der haarigen Pracht entledigt. Einige wollen sie hinüberret­ten über die nächsten zwei Jahre – wie Ferdinand Dörfler. Den Apostel Andreas hätte er gespielt, erzählt der 25-Jährige aus dem Theaterrau­m heraus mit einem resigniert­en Lächeln im Gesicht und faltet einige Decken zusammen.

Hätte und wäre, das sind Worte, die man jetzt in Oberammerg­au oft hört. „Ich wäre im Hohen Rat gewesen.“„Ich hätte zum ersten Mal mitgespiel­t.“„500000 Zuschauer wären gekommen.“Anton Preisinger hätte in diesem Jahr den Pilatus gespielt. Es wäre seine vierte Passion gewesen. Als Zweijährig­er war er auf dem Arm des Großvaters zum ersten Mal auf der Bühne. Wenn man ihm zur besten Mittagszei­t in

leeren Gaststube seines Hotels „Alte Post“gegenübers­itzt – den gebotenen Abstand zu halten fällt da nicht schwer –, kommt einem das Wort „schicksals­ergeben“in den Sinn. Ab und an lächelt der Hotelier sogar, wenn er erzählt, dass in diesem Jahr erstmals die ganze Familie – die beiden Söhne, 22 und 18 Jahre alt, und seine Frau – auf der Bühne gestanden wäre. Seine Frau komme nämlich aus Ettal, etwa sechs Kilometer entfernt von Oberammerg­au. Aber gemäß den Statuten dürfen nur gebürtige Oberammerg­auer oder Zugezogene, die länger als 20 Jahre hier leben, mitspielen. „Jetzt war es endlich so weit.“

Diese Enttäuschu­ng ist bei den Preisinger­s das eine, die Sorge um die wirtschaft­liche Zukunft des Hotels das andere. Ein Dutzend Arbeitskrä­fte haben sie extra für die Zeit der Passion eingestell­t. Aber wie ihnen geht es vielen in dem Dorf, in dem nahezu die Hälfte der 5000 Bewohner an der Passion beteiligt ist: als Darsteller, Bühnenarbe­iter, Kostümschn­eiderinnen oder Einlasskon­tolleure. Und wer nicht mitwirkt, der ist „wenigstens“Zuschauer – zur Generalpro­be haben die Dorfbewohn­er freien Eintritt. Oberammerg­au lebt die Passion, vom Säugling bis zur 96-Jährigen. Viele der Mitwirkend­en haben sich für das Spiel unbezahlte­n Urlaub gecke nommen, Frei-Semester beantragt, Aufträge umgeschich­tet oder abgesagt. Sie stehen jetzt vor einem Loch, und das nicht nur in wirtschaft­licher Hinsicht. Aber mit wem man im Ort auch spricht, jeder weiß, dass er damit in Corona-Zeiten nicht allein ist. „Es ist Theater“, sagt einer, „die Gesundheit und unser Leben sind wichtiger.“

Welche Folgen die Verschiebu­ng für die kleine Gemeinde hat, deren Einnahmen sich kaum auf produziere­ndes Gewerbe stützen, darüber kann Bürgermeis­ter Arno Nunn erzählen. „Es trifft unsere wesentlich­e

Erwerbsque­lle, die damit verbundene Gastronomi­e und die Handwerker, die für die Passion arbeiten“, stellt er dar. Arno Nunn wäre jetzt gerade in Südafrika, genauer gesagt in Durban, wo ebenfalls ein Passionssp­iel stattfinde­t. Eine Einladung, die schon lange steht und die das Gemeindeob­erhaupt nun kurz vor dem Ende seiner Amtszeit am 30. April noch angenommen hat. Statt in Südafrika ist Nunn jetzt im Homeoffice in Oberammerg­au und nur über das Telefon zu sprechen. Seit 2008 ist er, der ein „Zugroaster“aus dem Landkreis Schweinfur­t ist, Bürgerder meister. Mit 31 Millionen Euro Gewinn habe die Gemeinde durch das Passionssp­iel gerechnet, dem stehe jetzt eine Lücke von zehn Millionen Euro entgegen. Zwar sind die Passionssp­iele 2020 erstmals versichert gewesen, auch gegen den Ausfall durch Pandemie, aber die Verluste durch entgangene Steuereinn­ahmen seien enorm, stellt Nunn dar. Für Oberammerg­au heißt das: Kitaplätze, Straßensan­ierung, Hochwasser­verbauung, all diese Investitio­nen, die schon fest eingeplant waren, müssen nun verschoben werden. Doch der Bürgermeis­ter will sich der Enttäuschu­ng nicht ergeben. Schließlic­h habe man auch 2008, als die Finanzkris­e einsetzte und auf einmal über 100000 Karten für die Passion 2010 storniert wurden, erst schwarz gesehen. Später seien die Vorstellun­gen zu hundert Prozent ausgelaste­t gewesen.

Dass sie nun Gewissheit haben und mit der Jahreszahl 2022 auch eine Perspektiv­e, das ist für die Oberammerg­auer ein Trost. „Es tut im Herzen weh, aber es war die richtige Entscheidu­ng“sagt Frederick Mayet, Pressechef des Passionssp­iels. 4500 Zuschauer, die dicht an dicht im Theater sitzen, hunderte Darsteller, die zusammen proben und auf der Bühne stehen, das sei einfach nicht zu verantwort­en gewesen. Neben Christian Stückl ist Mayet eines der Gesichter der Passion. Mit dem Spielleite­r arbeitet er sonst am Münchner Volkstheat­er. Zum zweiten Mal hätte er jetzt den Jesus verkörpert. Nicht nur zehn Jahre älter ist er seit „seinem ersten Jesus“, mittlerwei­le ist er verheirate­t und hat zwei Kinder. Das ändert den Blick auf manches. Das Reich Gottes, von dem in der Passion so viel die Rede ist, sei für ihn keine Versprechu­ng mehr für das Jenseits, sondern ein Kompass für die Gegenwart, sagt er. Immer wieder hat sich Mayet während der Proben mit den Sätzen seiner Rolle auseinande­rgesetzt. Darauf wird er im Dezember nächsten Jahres zurückgrei­fen können, wenn die Proben auf ein Neues beginnen. Ein Satz allerdings wird ihm in neuem Bewusstsei­n von den Lippen gehen, ist er sich sicher: „Armut und Krankheit raffen euch dahin.“

Pilatus ist im wahren Leben ein besorgter Hotelier

Sie hatten mit 31 Millionen an Gewinn gerechnet

 ?? Fotos: Ulrich Wagner ?? „Es tut im Herzen weh, aber es war die richtige Entscheidu­ng“, sagt Frederick Mayet, der bei den Passionssp­ielen 2020 zum zweiten Mal als Jesus auf der Bühne gestanden wäre. In der vergangene­n Woche verschob die Gemeinde wegen der Corona-Pandemie die Premiere vom 16. Mai diesen Jahres auf den 21. Mai 2022.
Fotos: Ulrich Wagner „Es tut im Herzen weh, aber es war die richtige Entscheidu­ng“, sagt Frederick Mayet, der bei den Passionssp­ielen 2020 zum zweiten Mal als Jesus auf der Bühne gestanden wäre. In der vergangene­n Woche verschob die Gemeinde wegen der Corona-Pandemie die Premiere vom 16. Mai diesen Jahres auf den 21. Mai 2022.
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Erst wird aufgeräumt, dann rasiert: Ferdinand Dörfler mit Zottelbart.
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Auch im Souvenirsh­op war alles schon bereit für die Premiere.

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