Neuburger Rundschau

Corona – ein „Schubs“für die Digitalisi­erung

Homeoffice, Videokonfe­renzen, Lernplattf­ormen: Notgedrung­en stellen viele Unternehme­n und Schulen auf neue Arbeitsmod­elle um. Experten sehen darin eine große Chance für die Zukunft. Aber die Frage bleibt: Hält das Internet der steigenden Belastung auch st

- VON MAX KRAMER

Augsburg Die ganze Welt ist in diesen Tagen ein Ort der Extreme, und doch sticht Frankfurt heraus. Bange Blicke aus ganz Deutschlan­d richten sich in die nördliche Innenstadt, dorthin, wo mit der Börse ein zentraler Schauplatz der großen Corona-Krise liegt. Ein Sinnbild des Ausnahmezu­stands im gesetzten Teil der Main-Metropole. Extrem hat sich das Virus aber auch im angrenzend­en, aufstreben­den OstendVier­tel ausgewirkt: Wegen der Pandemie wurde dort jüngst ein Weltrekord aufgestell­t. Er ist ein Hinweis darauf, wie sich die Welt nach Corona verändert haben könnte.

Ein Großteil des deutschen Online-Datenverke­hrs fließt über Frankfurt – und dort über De-Cix. Am Abend des 10. März maß der größte Internetkn­oten der Welt einen Datendurch­satz von über neun Terabit pro Sekunde – das entspricht etwa der Übertragun­g von zwei Millionen hochauflös­enden Videos in der Dauer eines Herzschlag­s. Ein noch nie dagewesene­s Volumen. Doch auch rund um diesen einen Höhepunkt stieg die Datennutzu­ng in den vergangene­n Tagen stark an, laut De-Cix um rund zehn Prozent. Ein Grund: die Jahreszeit. Aber der entscheide­nde Grund: das Coronaviru­s. Es zwingt die Menschen, zu Hause zu bleiben – und viele Unternehme­n und Bildungsei­nrichtunge­n dazu, auf digitale und dezentrale Arbeitsmod­elle umzuschwen­ken. Eine Chance, ein wenig Sinnstifte­ndes in all dem Unheil, das das Virus anrichtet?

In seinem Buch „Antifragil­ität“antwortet der Ökonom und Essayist Nassim Nicholas Taleb auf die Frage, wie man Innovation­en anstoßen könne: „Man sollte zusehen, dass man sich in Schwierigk­eiten bringt.“Notlagen führten nicht zwangsläuf­ig zu einem posttrauma­tischen Stresssynd­rom, sondern in einigen Fällen zum exakten Gegenteil: zu posttrauma­tischem Wachstum. Auf welche – begrenzten – Bereiche dieses Prinzip im Nachgang der Corona-Krise zutrifft, bleibt abzuwarten. Doch dass Deutschlan­d zumindest im Bereich Digitalisi­erung langfristi­g von der aktuellen

Situation massiv profitiere­n wird, darauf deutet schon jetzt viel hin.

Einer Umfrage des Digitalver­bands Bitkom zufolge arbeitet jeder fünfte Berufstäti­ge wegen Corona erstmals im Homeoffice – eine der Umstellung­en, die sich laut Gordon Thomas Rohrmair, Präsident der Hochschule Augsburg und IT-Experte, bewähren dürften. „Viele Unternehme­n bekommen gerade einen Schubs“, sagt Rohrmair im Gespräch mit unserer Redaktion. „Sie richten Arbeitspro­zesse dezentrale­r und digitaler aus, weil sie ihren Betrieb sonst ganz einstellen müssten. Von diesen Reformen wird innerhalb der Unternehme­n viel Positives hängen bleiben – so schlimm die aktuelle Situation insgesamt ist.“

Wo bisher vielerorts Skepsis gegenüber neuen digitalen Technologi­en herrschte, hat inzwischen Pragmatism­us Einzug gehalten. „Gelernte Methoden, wie etwa ein Event oder eine Besprechun­g physisch stattfinde­n zu lassen, funktionie­ren jetzt nicht mehr“, sagt der Geschäftsf­ührer des Internetwi­rtschafts-Verbands eco, Alexander Rabe. Er arbeitet derzeit selbst im Homeoffice, laut eigener Aussage ohne Probleme. „Mit digitalen Werkzeugen wie Kollaborat­ionstools und Livestream­s können wir aus der Ferne dieselben Inhalte transporti­eren, für die wir vorher physisch zusammenko­mmen mussten.“Das, was ein Flug um die Welt leiste, könne manchmal eben auch eine Videokonfe­renz leisten. Und so seien auch die meisten anderen Erfahrunge­n, die Arbeitgebe­r aktuell mit neueren Technologi­en machen würden, positiv. „Ich gehe davon aus, dass hier viele Augen geöffnet werden.“Dies treffe auch auf Behörden zu, die verstärkt auf digitale Angebote setzen sollten.

Das Coronaviru­s hat viele Schwachste­llen offengeleg­t und ihre Beseitigun­g immens beschleuni­gt.

Das gilt für Unternehme­n, besonders aber für den Bildungsbe­reich. „Jetzt rächt sich, dass sich in Deutschlan­d bei der Digitalisi­erung der Schulen so lange nichts richtig bewegt hat“, klagte zu Beginn der Corona-Krise Udo Beckmann, Bundesvors­itzender der Lehrergewe­rkschaft VBE. Und doch hat sich seitdem Bemerkensw­ertes getan: Lehrkräfte haben sich angesichts der kurzfristi­gen Schulschli­eßungen schnell und hemdsärmel­ig neu organisier­t. Viele Schüler bekommen erstmals Unterricht­smateriali­en auf elektronis­chem Weg, arbeiten mit Clouds, vertiefen den Stoff mit empfohlene­n Online-Videos. Erstmals lernen sie so, wie ein wichtiger Teil ihrer Zukunft sein wird: digital. Auch an Universitä­ten werden mehr Vorlesunge­n, Seminare und Kurse per Video-Übertragun­gen angeboten. Dass sich am Ende keine der neuen Methoden bewähren und den Bildungsal­ltag langfristi­g erleichter­n wird, ist schwer vorstellba­r.

Gerade das Beispiel Schule hat aber auch schonungsl­os offen gelegt, dass aller Innovation­swille nichts hilft, wenn es an der erforderli­chen Infrastruk­tur fehlt. Mebis heißt die Online-Lernplattf­orm des bayerische­n Kultusmini­steriums, über die Lehrer ihre Schüler mit Unterricht­smaterial versorgen können – theoretisc­h. Am 16. März, just dem ersten Tag, an dem die bayerische­n Schulen wegen des Virus geschlosse­n waren und viele Schüler von zu Hause aus lernen sollten, brachen die Server der Lernplattf­orm nach einem eigentlich harmlosen Hackerangr­iff zusammen. Auch danach war die Plattform oft gar nicht oder nur eingeschrä­nkt nutzbar. Den Grund lieferte Mebis selbst: „Derzeit sind alle vorhandene­n Ressourcen ausgelaste­t.“Schüler, Lehrer und Eltern waren verärgert.

Überhaupt beklagten sich gerade zu Beginn der Corona-bedingten Dezentrali­sierung viele Leute aus dem

Homeoffice heraus über Verbindung­sprobleme. Sollte das Internet der steigenden Belastung etwa nicht gewachsen sein? Nein – die Gründe lagern woanders. Genauer: „An der Schnittste­lle zwischen einer Firma oder Organisati­on und dem Internet“, sagt Hochschulp­räsident Gordon Thomas Rohrmair. „Wenn Sie von zu Hause aus arbeiten, müssen Sie eine VPN aufbauen – also einen Kanal, um die Daten verschlüss­elt zur Firma zu transferie­ren. Das kostet viel Rechenleis­tung auf dem Einwahlkno­ten in der Firma“, sagt Rohrmair. „Üblicherwe­ise sind die Einwahlkno­ten nicht auf einen so starken Nutzungsan­stieg vorbereite­t, und dann kommt es zu Problemen. Das ist wie beim menschlich­en Körper: Wenn Sie plötzlich anders trainieren, gibt es einen Muskelkate­r.“Oft entstehe dadurch aber der Eindruck, dass etwas mit dem Internet insgesamt nicht stimme.

Im Vergleich zur „Hauptverke­hrszeit“am Abend liegt die Datennutzu­ng tagsüber momentan bei etwa 50 Prozent – üblich sind laut Internetwi­rtschafts-Verband eco 25 Prozent. An Kapazitäts­grenzen bringt die stärkere Nutzung das Internet in Deutschlan­d aber nicht. „Die technologi­sche Basis des Internets – die Kapazitäte­n der Rechenzent­ren, die Internet-Austauschk­apazitäten – ist bei weitem nicht ausgelaste­t“, sagt eco-Geschäftsf­ührer Alexander Rabe gegenüber unserer Redaktion. „Außer einer Zerstörung dieser Basis durch Naturkatas­trophen oder Krieg gibt es auch kein Szenario, das dazu führen könnte.“

Auf Drängen der EU haben verschiede­ne Video-Portale jetzt dennoch auf den gestiegene­n Datenverke­hr reagiert: Youtube, Amazon Prime, Netflix und auch der am Dienstag gestartete Streaming-Dienst Disney Plus drosseln vorübergeh­end ihre Datenmenge­n. Mit Facebook schließt sich dem auch das größte soziale Netzwerk der Welt an. Die Betreiber erklärten jeweils, sie wollten die Netze entlasten und Datenstaus verhindern. Nutzer sehen dadurch zwar weiterhin alle Filme, Serien und Clips, nun aber oft nicht mehr hochauflös­end. Viel kleiner können Probleme momentan nicht sein.

 ?? Foto: Rainer Berg, dpa ?? Als Reaktion auf die Corona-Pandemie haben viele Unternehme­n auf Homeoffice umgestellt – so wie etliche Schulen auf digitale Lernplattf­ormen. Auch wenn es vielerorts noch zu Verbindung­sproblemen kommt: Experten gehen davon aus, dass sich viele der Notlösunge­n auch langfristi­g etablieren werden.
Foto: Rainer Berg, dpa Als Reaktion auf die Corona-Pandemie haben viele Unternehme­n auf Homeoffice umgestellt – so wie etliche Schulen auf digitale Lernplattf­ormen. Auch wenn es vielerorts noch zu Verbindung­sproblemen kommt: Experten gehen davon aus, dass sich viele der Notlösunge­n auch langfristi­g etablieren werden.

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