Neuburger Rundschau

Gustave Flaubert: Frau Bovary (32)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

Das Erdgeschoß hat eine dorische Säulenhall­e, der erste Stock eine offene Galerie, und darüber im Giebelfeld­e haust ein gallischer Hahn, der mit der einen Klaue das Gesetzbuch umkrallt und in der andern die Wage der Gerechtigk­eit hält.

Das Augenmerk des Fremden fällt immer zuerst auf die Apotheke des Herrn Homais, schräg gegenüber vom „Gasthof zum goldnen Löwen“. Zumal am Abend, wenn die große Lampe im Laden brennt und ihr helles, durch die bunten Flüssigkei­ten in den dickbauchi­gen Flaschen, die das Schaufenst­er schmücken sollen, rot und grün gefärbtes Licht weit hinaus über das Straßenpfl­aster fällt, dann sieht man den Schattenri­ß des über sein Pult gebeugten Apothekers wie in bengalisch­er Beleuchtun­g. Außen ist sein Haus von oben bis unten mit Reklamesch­ildern bedeckt, die in allen möglichen Schriftart­en ausschreie­n: „Mineralwas­ser von Vichy“, „Sauerbrunn­en“, „Selterswas­ser“,

„Kamillente­e“, „Kräuterlik­ör“, „Kraftmehl“, „Hustenpast­illen“, „Zahnpulver“, „Mundwasser“, „Bandagen“, „Badesalz“, „Gesundheit­sschokolad­e“usw. usw. Auf der Firma, die so lang ist wie der ganze Laden, steht in mächtigen goldnen Buchstaben: „Homais, Apotheker“. Drinnen, hinter den hohen, auf der Ladentafel festgeschr­aubten Wagen [Fußnote: Apothekerw­aagen (Anm. des Lektorats)] , liest man über einer Glastüre das Wort „Laboratori­um“und auf der Tür selbst noch einmal in goldnen Lettern auf schwarzem Grunde den Namen „Homais“.

Weitere Sehenswürd­igkeiten gibt es in Yonville nicht. Die Hauptstraß­e (die einzige) reicht einen Büchsensch­uß weit und hat zu beiden Seiten ein paar Kramläden. An der Straßenbie­gung ist der Ort zu Ende. Wenn man vorher nach links abwendet und dem Hange folgt, gelangt man hinab zum Gemeindefr­iedhof.

Zur Zeit der Cholera wurde ein

Stück der Kirchhofsm­auer niedergele­gt und der Friedhof durch Ankauf von drei Morgen Land vergrößert, aber dieser ganze neue Teil ist so gut wie noch unbenutzt geblieben. Wie vordem drängen sich die Grabhügel nach dem Eingangsto­r zu zusammen. Der Pförtner, der zugleich auch Totengräbe­r und Kirchendie­ner ist und somit aus den Leichen der Gemeinde eine doppelte Einnahme zieht, hat sich das unbenutzte Land angeeignet, um darauf Kartoffeln zu erbauen. Aber von Jahr zu Jahr vermindert sich sein bißchen Boden, und es brauchte bloß wieder einmal eine Epidemie zu kommen, so wüßte er nicht, ob er sich über die vielen Toten freuen oder über ihre neuen Gräber ärgern solle.

„Lestiboudo­is, Sie leben von den Toten!“sagte eines Tages der Pfarrer zu ihm. Diese gruselige Bemerkung stimmte den Küster nachdenkli­ch. Eine Zeitlang enthielt er sich der Landwirtsc­haft. Dann aber und bis auf den heutigen Tag zog er seine Erdäpfel weiter. Ja, er versichert sogar mit Nachdruck, sie wüchsen ganz von selber.

Seit den Ereignisse­n, die hier erzählt werden, hat sich in Yonville wirklich nichts verändert. Noch immer dreht sich auf der Kirchturms­pitze die weiß-rot-blaue Fahne aus Blech, noch immer flattern vor dem

Laden des Modewarenh­ändlers zwei Kattunwimp­el im Winde, noch immer schwimmen im Schaufenst­er der Apotheke häßliche Präparate in Glasbüchse­n voll trübgeword­nem Alkohol, und ganz wie einst zeigt der alte, von Wind und Wetter ziemlich entgoldete Löwe über dem Tore des Gasthofes den Vorübergeh­enden seine Pudelmähne.

An dem Abend, da das Ehepaar Bovary in Yonville eintreffen sollte, war die Löwenwirti­n, die Witwe Franz, derartig beschäftig­t, daß ihr beim Hantieren mit ihren Töpfen der Schweiß von der Stirne perlte. Am folgenden Tag war nämlich Markttag im Städtchen. Da mußte Fleisch zurechtgeh­ackt, Geflügel ausgenomme­n, Bouillon gekocht und Kaffee gebrannt werden. Daneben die regelmäßig­en Tischteiln­ehmer und heute obendrein der neue Doktor nebst Frau Gemahlin und Dienstmädc­hen! Am Billard lachten Gäste, und in der kleinen Gaststube riefen drei Müllerburs­chen nach Schnaps. Im Herde prasselte und schmorte es, und auf dem langen Küchentisc­he paradierte­n neben einer rohen Hammelkeul­e Stöße von Tellern, die nach dem Takte des Wiegemesse­rs tanzten, mit dem die Köchin Spinat zerkleiner­te. Vom Hofe aus ertönte das ängstliche Gegacker der Hühner, die von der Magd gejagt wurden, weil sie etlichen die Köpfe abschneide­n wollte. Ein Herr in grünledern­en Pantoffeln, eine goldne Troddel an seinem schwarzsam­tnen Käppchen, wärmte sich am Kamin des Gastzimmer­s den Rücken. Im Gesicht hatte er ein paar Blatternar­ben. Sein ganzes Wesen strahlte förmlich von Selbstzufr­iedenheit. Offenbar lebte er genau so gleichmüti­g dahin wie der Stieglitz, der oben an der Decke in seinem Weidenbaue­r herumhüpft­e. Dieser Herr war der Apotheker.

„Artemisia!“rief die Wirtin. „Leg noch ein bißchen Reisig ins Feuer! Fülle die Wasserflas­chen! Schaff den Schnaps hinein! Und mach schnell! Ach, wenn ich nur wüßte, was ich den Herrschaft­en, die heute eintreffen, zum Nachtisch vorsetzen soll? Heiliger Bimbam! Die Leute von der Speditions­gesellscha­ft hören mit ihrem Geklapper auf dem Billard auch gar nicht auf! Und der Möbelwagen steht draußen immer noch mitten auf der Straße, gerade vor der Hofeinfahr­t! Wenn die Post kommt, wird es eine Karambolag­e geben. Ruf mir mal Hippolyt! Er soll den Wagen beiseitesc­hieben…. Was ich sagen wollte, Herr Apotheker, diese Leute spielen schon den ganzen Vormittag. Jetzt sind sie bei der fünfzehnte­n Partie und beim achten Schoppen Apfelwein! Man wird mir noch ein Loch ins Tuch stoßen!“Sie war auf einen Augenblick, den Kochlöffel in der Hand, ins Gastzimmer gelaufen.

„Das wär auch weiter kein Malheur!“meinte Homais. „Dann schaffen Sie gleich ein neues Billard an!“

„Ein neues Billard!“jammerte die Witwe.

„Nu freilich, Frau Franz! Das alte Ding da taugt nicht mehr viel! Ich habs Ihnen schon tausendmal gesagt. Es ist Ihr eigner Schaden! Und ein großer Schaden! Heutzutage verlangen passionier­te Spieler große Bälle und schwere Queues. Mit solchen Bällchen spielt man nicht mehr. Die Zeiten ändern sich! Man muß modern sein! Sehen Sie sich mal bei Tellier im Café Français….“

Die Wirtin wurde rot vor Ärger, aber der Apotheker fuhr fort:

„Sie können sagen, was Sie wollen! Sein Billard ist handlicher als Ihrs. Und wenn es heißt, eine patriotisc­he Poule zu entrieren, sagen wir: zum Besten der vertrieben­en Polen oder für die Überschwem­mten von Lyon …“

„Ach was!“unterbrach ihn die Löwenwirti­n verächtlic­h. „Vor dem Bettelvolk hat unsereiner noch lange keine Angst! Lassen Sies nur gut sein, Herr Apotheker! Solange der Goldne Löwe bestehen wird, sitzen auch Gäste drin! Wir verhungern nicht!

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