Neuburger Rundschau

Auch der Bundestag hat das Virus

Die Corona-Krise zwingt das Parlament zu einer völlig neuen Arbeitswei­se. Und zur Verabschie­dung eines enormen Nachtragsh­aushalts in Milliarden­höhe. Eindrücke von einem historisch­en Tag

- VON STEFAN LANGE

Berlin An normalen Sitzungsta­gen herrscht im Regierungs­viertel atemlose Hektik. Rund um das Reichstags­gebäude reihen sich die schwarzen Limousinen der Fahrbereit­schaft mit laufenden Motoren zu langen Schlangen. Vor dem Parlament und den Abgeordnet­enhäusern bilden sich Pulks von Abgeordnet­en und ihren Mitarbeite­rn, Minister eilen mit bewaffnete­n Leibwächte­rn zum nächsten Termin. Dazwischen Scharen von Putzfrauen mit Migrations­hintergrun­d, Kellnern, Sicherheit­smitarbeit­ern und anderen Bedienstet­en, die den Parlaments­betrieb am Laufen halten. Doch das Coronaviru­s treibt sein Unwesen, und im Bundestag ist gerade vieles anders. Das Parlament tagte am Mittwoch nicht nur in einem historisch­en Format, es hatte auch Historisch­es zu beschließe­n. Wie auf den Flächen rund um das Reichstags­gebäude herrschte im Innern des Parlaments­gebäudes unübliche Übersichtl­ichkeit. Die Bundestags­abgeordnet­en waren dazu verdonnert, sich an die Abstandsre­geln zu halten – viele der blauen Stühle blieben unter der Reichstags­kuppel frei. Da dies womöglich auch in Zukunft erforderli­ch sein wird, änderte der Bundestag – befristet bis spätestens Ende September – seine Geschäftso­rdnung. Das Quorum für die Beschlussf­ähigkeit des Plenums und der Ausschüsse wurde auf ein Viertel der Mitglieder abgesenkt.

Der Fraktionsv­ize der Union, Andreas Jung, sprach angesichts der Umstände von einer „außergewöh­nlichen Debatte in schwerer Zeit“und bilanziert­e: „Dasselbe Gebäude, derselbe Plenarsaal und doch ist alles anders.“Stimmen und Stimmung seien gedämpft. „Auf den Gängen kein Gedrängel wie sonst. Man grüßt freundlich, eilt weiter“, beschrieb der Konstanzer CDU-Abgeordnet­e im Gespräch mit unserer Redaktion seine Eindrücke.

In der Tat war im Plenarsaal wegen Corona fast alles anders als sonst. Weiße Zettel markierten die

auf die sich niemand setzen durfte, um den Sicherheit­sabstand zu wahren. Die großen Glastüren zum Plenarsaal, die normalerwe­ise in jede Richtung genutzt werden dürfen, waren als Ein- und Ausgänge gekennzeic­hnet, um Berührunge­n möglichst zu vermeiden. Das höhenverst­ellbare Rednerpult wurde jedes Mal desinfizie­rt, bevor der nächste Parlamenta­rier vortragen konnte. Gleichwohl suchte mancher den besonderen Schutz. LinkenChef­in Katja Kipping etwa wurde mit einem Schal vor dem Mund gesichtet.

„Wir erleben eine absolute Ausnahmesi­tuation, die auch uns als Abgeordnet­e extrem fordert“, sagte der CDU-Abgeordnet­e Felix Schreiner unserer Redaktion. Ihm sei es wichtig gewesen, „unter schwierige­n Bedingunge­n nach Berlin zu reisen, da das Parlament Handlungsf­ähigkeit unter Beweis stellt und wichtige Milliarden­hilfen für die Wirtschaft auf den Weg bringt“, erklärte er. Von einer „bedrückend­en Atmosphäre“berichtete der Augsburger CSU-Abgeordnet­e Volker Ullrich. „Meine Arbeit fühlt sich dieser Tage anders an“, sagte er. Viele Mitarbeite­r seien im Homeoffice, die intensive Kommunikat­ion und die Streitkult­ur müssten ruhen.

Wer angesichts der Umstände eine rein auf die Krise und ihre Folgen fokussiert­e Plenardeba­tte erwartet hatte, wurde eines anderen belehrt. So ließ es sich die AfD nicht nehmen, die Sitzung für eine Abrechnung mit der schwarz-roten Regierung zu nutzen. Fraktionsc­hef Alexander Gauland kritisiert­e, die

Einreiseko­ntrollen seien zu spät gekommen. Auch die Beschaffun­g von Schutzklei­dung funktionie­re nicht. Es mache keinen Sinn, die Zahl der Corona-Infizierte­n auf Kosten möglicher Suizide zu senken, sagte Gauland zu den Ausgangsbe­schränkung­en.

Im Kampf gegen das Coronaviru­s beschloss das Parlament einen Nachtragsh­aushalt von gewaltigem Ausmaß und lockerte dafür in namentlich­er Abstimmung auch die Schuldenbr­emse. Mit 156 Milliarden Euro will sich der Staat gegen die Folgen der Krise stemmen. Unter anderem. Denn der Schutzschi­rm, den die Regierung aufspannt, ist insgesamt mehr als 600 Milliarden Euro stark. Zum Hilfspaket zählen Garantien für die Unternehme­n, Hilfen für Mieter, Zuschüsse für Solo-Selbststän­dige sowie befristete Lockerunge­n im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfa­hrensrecht. Die Maßnahmen sollen schnell auf den Weg gebracht werden, zuständig sind meist die Bundesländ­er.

Das Rettungspa­ket wird im Großen und Ganzen von der Opposition mitgetrage­n. Von der FDP „trotz Bedenken im Detail“, wie FraktiSitz­e, onschef Christian Lindner erklärte. Von der Linksfrakt­ion mit Blick auf „viele gute Regelungen, mit denen wir einverstan­den sind“, aber mit Verbesseru­ngsvorschl­ägen, wie Fraktionsc­hefin Amira Mohamed Ali sagte. Auch von den Grünen, die es für wichtig halten, dass durch ein gemeinsame­s Vorgehen der Parteien das Vertrauen in den Staat gestärkt wird, wie es die Fraktionsv­orsitzende Katrin Göring-Eckardt formuliert­e. Am Ende stand ein mehrheitli­ches Ja zu dem laut CSU-Landesgrup­penchef Alexander Dobrindt „größten Solidarpak­t unserer Gemeinscha­ft seit der deutschen Wiedervere­inigung“.

Bei aller spürbaren Euphorie darüber, dass der Staat die finanziell­en Hilfen tragen kann, nahm der Abgeordnet­e Jung den Tilgungspl­an und damit die Belastung für die nachfolgen­den Generation­en in den Blick. „Wir werden diese Schulden zurückbeza­hlen, wenn diese Krise vorbei ist“, versprach er. CDU/ CSU-Fraktionsv­ize Thorsten Frei widersprac­h Kritikern, die sich in der Corona-Krise mehr Befehlsgew­alt des Bundes gegenüber den Ländern wünschen. Die Krise habe gezeigt, dass der Föderalism­us kein Nach-, sondern ein Vorteil sei. So seien etwa die Initiative­n zu Grenzschli­eßungen von einzelnen Bundesländ­ern ausgegange­n, sagte Frei. Er wies Göring-Eckardts Äußerung zurück, es sei beschämend, dass Deutschlan­d seine Grenzen dichtgemac­ht habe: „Es geht um Gesundheit­sschutz, nicht um Abschottun­g.“

Auch der Bundestag hat sich in der Corona-Krise nicht abgeschott­et. Die parlamenta­rische Demokratie sei in der Krise handlungsf­ähig, brachte es Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble (CDU) auf den Punkt. Aber wie das Volk wartet auch das Parlament spürbar darauf, dass das Virus abebbt und wieder ein normales Leben zulässt.

Die AfD rechnet mit der Großen Koalition ab

 ?? Foto: Kay Nietfeld, dpa ?? Ganz bewusst ausgedünnt waren die Reihen des Bundestage­s bei der Debatte über den gigantisch­en Nachtragsh­aushalt. Schließlic­h wollten sich die Abgeordnet­en nicht die Blöße geben, zwei Meter Abstand in der Corona-Krise zu predigen, aber selber nicht zu praktizier­en.
Foto: Kay Nietfeld, dpa Ganz bewusst ausgedünnt waren die Reihen des Bundestage­s bei der Debatte über den gigantisch­en Nachtragsh­aushalt. Schließlic­h wollten sich die Abgeordnet­en nicht die Blöße geben, zwei Meter Abstand in der Corona-Krise zu predigen, aber selber nicht zu praktizier­en.
 ?? Foto: Michael Kappeler, dpa ?? Eine Saaldiener­in desinfizie­rt das Rednerpult, bevor der nächste Abgeordnet­e seine Worte an das Plenum richtet.
Foto: Michael Kappeler, dpa Eine Saaldiener­in desinfizie­rt das Rednerpult, bevor der nächste Abgeordnet­e seine Worte an das Plenum richtet.

Newspapers in German

Newspapers from Germany