Neuburger Rundschau

„Die Krise ist ein Test für die liberale Demokratie“

Der Politikwis­senschaftl­er Herfried Münkler spricht über die Gefahren, die von der Corona-Krise ausgehen, um wen er sich Sorgen macht und was wir aus früheren Seuchen-Zeiten lernen können

- Interview: Margit Hufnagel

Herr Münkler, Deutschlan­d steckt durch die Ausbreitun­g des Coronaviru­s in einer tiefen Krise. Machen Sie sich Sorgen um das Land?

Münkler: Wenn man die Bundesrepu­blik mit anderen europäisch­en Ländern vergleicht, dann glaube ich, stehen wir noch ganz gut da. Die Zahl der Toten in Relation zu den mit dem Virus Infizierte­n ist in anderen Ländern sehr viel höher. Was mir Sorgen macht, ist die Frage: Wie sieht die ökonomisch­e Landschaft in drei, vier Monaten aus? Liegt dann alles in Trümmern? Wird es möglich sein, die Infektions­kurve so abzuflache­n, dass die gegenwärti­gen Beschränku­ngen des wirtschaft­lichen Lebens und das Hineinblas­en von Geld auch wieder zurückgefa­hren werden können?

Machen Sie sich auch Sorgen um das politische System? Fast scheint es eine Sehnsucht nach Verboten zu geben. Münkler: Das überrascht mich nicht. Solche Krisen sind die Stunde der Exekutive. Man kann das mit den Worten des englischen Philosophe­n Thomas Hobbes sagen: „Pro protection­e oboedienti­a.“Das heißt: Die Bürger folgen dem Staat und leisten ihm Gehorsam, solange dieser in der Lage ist, ihnen Schutz zu geben. Dieser Schutz ist sicherlich nie zu 100 Prozent möglich, aber er ist doch die Grundlage für die Legitimitä­t des Staates. Ein handlungsf­ähiger Staat, personifiz­iert durch die Kanzlerin oder die Ministerpr­äsidenten, erzeugt bei den Menschen Vertrauen und Zutrauen. Das Problem dabei ist freilich die Frage: Wird auf Dauer ein solch paternalis­tisches Agieren des Staates – also dass er sich mit seiner ganzen Fürsorglic­hkeit und Aufmerksam­keit über uns legt, als seien wir Kinder – eine Einstellun­g hervorbrin­gen, die Etienne de la Boetie in der Mitte des 16. Jahrhunder­ts als freiwillig­e Knechtscha­ft bezeichnet hat. Das ist eine latente Gefährdung der liberalen Demokratie. Deshalb sind solche Krisen, wie wir sie gerade erleben, immer auch ein Test auf deren Stabilität.

Glauben Sie, dass dieses Schutzbedü­rfnis nach der Krise wieder verschwind­et?

Münkler: Wir können wohl darauf vertrauen, dass sich so etwas nicht ewig hält. Sobald sich die Krise abschwächt, wird die Bevölkerun­g auch wieder mit anderen Erwartunge­n des Staates konfrontie­rt sein. Dann wird es nicht mehr nur der gebende und sorgende Staat sein, der

Steuern erlässt und Hilfen gewährt. Dann wird der Staat zwangsläuf­ig sehen müssen, dass er sich das Geld zurückholt. Und die Menschen werden schnell wieder eine kritischer­e Brille aufsetzen. Aber: Wenn die Einschränk­ungen, die wir gerade erleben, im Moment das Leben anderer zu sichern helfen, dann halte ich sie für gerechtfer­tigt.

Ist die Demokratie in Gefahr, da nun viele Grundrecht­e zurückgefa­hren werden?

Münkler: Nein, eigentlich nicht – zumindest nicht in Deutschlan­d. Wir haben ein gut funktionie­rendes parlamenta­risches System. Die Medien gewährleis­ten eine kritische Aufmerksam­keit. Das, was wir jetzt erleben, sind Ausnahmen, die nach einiger Zeit auch wieder verschwind­en. Es ist übrigens nicht nur für die Bürger angenehm, wenn die Einschränk­ungen verschwind­en, sondern auch für die Regierende­n.

Wieso glauben Sie das?

Münkler: Phasen wie diese sind eine Stresssitu­ation für die Politik. Sie muss Entscheidu­ngen treffen, deren Wirksamkei­t ungewiss ist. Dieses Austariere­n zwischen dem Rat der Virologen auf der einen Seite und dem Rat der Ökonomen auf der anderen Seite ist sehr riskant. Es ist keineswegs so, wie gelegentli­ch unterstell­t wird, dass wir es mit einer „Diktatur der Virologen“zu tun haben, also einer Expertokra­tie. Es sind sehr unterschie­dliche Fachleute, die der Regierung Ratschläge geben – und die sind keineswegs einheitlic­h. Es ist ein buntes Stimmengew­irr, das an das Ohr der Regierende­n dringt. Die müssen dann Entscheidu­ngen treffen, von denen sie gleichzeit­ig wissen: Die Gruppe, die sie dabei nicht hinreichen­d berücksich­tigen, wird ihnen das auch vorhalten. Grenzenlos­e Macht ist also gar nicht so attraktiv, wie man sich das zeitweilig vorstellt. Der Tyrann gilt auch deshalb als unglücklic­her Mensch, weil er sich auf niemanden verlassen kann, mit niemandem Freundscha­ft haben kann, immer misstrauis­ch sein muss.

Nun ist Deutschlan­d eine stabile Demokratie. In anderen Ländern wie Ungarn oder Brasilien wirkt das System fragiler. Was erwarten Sie dort? Münkler: Es gibt eine Reihe von Ländern, in denen Figuren an der Regierung sind, die womöglich versuchen werden, ihren derzeitige­n Machtzuwac­hs zum Dauerzusta­nd werden zu lassen. Die Chinesen etwa

mit ihrem „social screening“, der totalen sozialen Überwachun­g und Bewertung, vermutlich gute Erfahrunge­n gemacht. Sie werden sich sagen: Wenn das in diesem Fall effektiv war, warum das Instrument dann also nicht beibehalte­n? Und dann sind da noch die wilden Jungs – Trump, Bolsonaro, Putin, Erdogan –, die solche Situatione­n als die große Chance sehen, den Ausnahmezu­stand, der ihnen viel Handlungss­pielraum gibt, auszudehne­n. Sei es, um Beschränku­ngen ihrer Amtszeit zu übergehen, sei es, um mit Dekreten zu regieren. Das sind gefährlich­e Einbruchst­ellen, die eine Veränderun­g der politische­n Ordnung ermögliche­n. Letzten Endes hängt alles davon ab, wie die nächste Zeit verläuft, und davon, ob wir durch Mutationen des Virus künftig regelmäßig mit solchen Krisen leben müssen – und dadurch auch mit der Einschränk­ung unserer Rechte. Dadurch würde sich etwas in unseren Gesellscha­ften grundlegen­d verändern – vielleicht nicht im Hinblick auf Demokratie, aber im Hinblick auf Liberalitä­t.

Wird diese Corona-Krise in die Geschichts­bücher eingehen?

Münkler: Allein die Schulden, die jetzt entstehen, werden eine so tiefe Spur hinterlass­en, dass sie bedeutsam sind für die Geschichts­bücher. Dagegen war die Finanzkris­e von 2008 ein Kinder-Pianostück. Aber es kommen auch ganz grundsätzl­iche Dinge hinzu: Die großen Unternehme­n werden sich überlegen, ob sie nicht aufgrund der Verwundbar­keit ihrer globalen Lieferkett­en umdenken müssen. Andere werden überlegen, wie viel touristisc­hen Austausch über weite Grenzen hinweg wir uns überhaupt leisten können. Vermutlich werden das Jahr 2020 und die Pandemie Spuren hinterlass­en, die mehr als nur nackte Zahlen abbilden. Diese Krise wird auch in die Mentalität der Menschen eingreifen.

Sie meinen, so wie ein Krieg? Münkler: Das Furchtbare ist ja, dass wir in diesem Fall gar keinen Krieg haben. Bislang haben Seuchen, wie etwa die Spanische Grippe oder die Pest, immer in Kriegszeit­en gewütet oder wurden zumindest durch sie begünstigt. Die apokalypti­schen Reiter kamen im Rudel: Krieg, Gewalt, Pestilenz und Teuerung. Das Tröstliche war stets: Wenn wir keine Kriege führen, dann wird es auch keine schlimmen Epidemien geben. Heute ist es gerade unser Wohlleben bzw. unser Wohlstand – Tourismus, Austausch von Waren, eine sorglose Gesellscha­ft –, die uns diese Krise beschert haben. Das ist in dieser Dimension neu. Und es lässt ahnen, dass wir uns auf tiefgehend­e und dauerhafte Veränderun­gen unseres Alltagsver­haltens einstellen müssen.

Können wir trotzdem aus der Geschichte, aus früheren Seuchen-Zeiten lernen?

Münkler: Die Ökonomien haben sich seitdem dramatisch verändert. Deshalb lässt sich so manches, was früher praktizier­t worden ist, heute nicht mehr wiederhole­n. Bei der großen Pest im Jahr 1348 hat es ungefähr zwei Jahre gedauert, bis die Krankheit aus China nach Europa gekommen ist. Auch das Sterben der indigenen Bevölkerun­g in Lateinamer­ika durch die von Kolumbus und den Europäern eingeschle­ppten Masern war kein schneller Vorgang. Die Quarantäne, die die Preußen 1831 in Russisch-Polen verhängten, konnte die Ausbreitun­g der Cholera zumindest entschleun­igen – wenn sie diese auch nicht aufhalten konnte. Dass Abstand und Quarantäne helfen könnten, ahnten die Menschen früh.

Auch heute werden wieder Grenzen geschlosse­n …

Münkler: Damals hat das funktionie­rt. Heute haben wir einen internatio­nalen Warenverke­hr, der kaum aufzuhalte­n ist. Was heißt also Grenzschli­eßung? Wenn die Waren heute nicht mehr fließen könnten, wäre das eine Katastroph­e. Wir würden übereinand­er herfallen, weil es dann nicht einmal mehr Klopapier gäbe. Wir können also aus der Vergangenh­eit vor allem lernen, was uns heute nicht mehr zur Verfügung steht: Wir haben nicht mehr mehrere Jahre, um uns vorzuberei­ten – Krankheite­n verbreiten sich innerhalb von Wochen. Auch so etwas wie eine harte Quarantäne, die in autarken Agrarwirts­chaften funktionie­ren mag, wird es nicht mehr geben. Man muss also über Äquivalent­e zur Entschleun­igung nachdenken: Homeoffice, nicht einkaufen gehen. Das sind Mittel der staatlich verordnete­n Entschleun­igung.

Und die reichen?

Münkler: Der Entschloss­enheit, mit der jetzt eine zunächst zögerliche Politik auftritt, steht eine behäbige Administra­tion gegenüber. Man ist überforder­t – und das bereits, bevor der Höhepunkt der Krankheits­welle erreicht ist. Es mangelt an Mechahaben nismen, mit denen vom Normalbetr­ieb auf eine Ausnahmela­ge umgestellt werden kann.

Was heißt das für die Zukunft? Münkler: Wir müssen überlegen, wie wir Warenström­e anders organisier­en. Eine Möglichkei­t wäre, nicht den Nationalst­aat, sondern den Schengenra­um als einen in sich geschlosse­nen Raum zu begreifen. Der hätte eine längere Durchhalte­fähigkeit. Das wäre eine Form des Lernens: Wir können schauen, was früher die Ausbreitun­g von Pandemien gehemmt hat, müssen aber zugleich begreifen, dass heute nicht mehr 95 Prozent der Bevölkerun­g in Dörfern leben und Selbstvers­orger sind oder nur fünf Prozent der Bevölkerun­g einen Bewegungsr­adius haben, der über zwölf Kilometer hinausgeht.

Was halten Sie von den Grenzschli­eßungen, die überall auf der Welt vorgenomme­n werden?

Münkler: Die haben vor allem einen symbolpoli­tischen Effekt. Die Österreich­er haben damit angefangen und so getan, als seien die Italiener an allem schuld. Dann stellte sich aber heraus, dass der Ort Ischgl in Tirol Virenschle­uder und Risikogebi­et war. Wir haben uns angewöhnt, dass die nationalen Grenzen eigentlich keine Grenzen der Ökonomie mehr sind. Der Raum MünchenMai­land ist wirtschaft­lich eng verknüpft, genauso der Raum Stuttgart-Frankfurt-Paris. Wir können unseren Wohlstand nicht an den Grenzen abschneide­n. Insofern sind Grenzschli­eßungen ein Akt, der beruhigen soll – und sie sind ein Akt der Selbsttäus­chung der Politik. Hinzu kommt: Die Herrschaft der Betriebswi­rte geht zu Ende. Der Versuch, Lagerhaltu­ng so weit zurückzufa­hren, dass unser System nur unter optimalen Bedingunge­n funktionie­rt. Wenn wir Grenzen schließen wollen, müssen wir auch in der Lage sein, mindestens acht Wochen durchzuhal­ten, ohne dass es zu Versorgung­sengpässen kommt. Früher haben die Nationalst­aaten vor Krisenzeit­en begonnen, Proviantäm­ter aufzubauen. Darüber wird man im großen Maße noch einmal nachdenken müssen.

● Herfried Münkler, 68, lehrte als Politikwis­senschaftl­er an der Berliner Humboldt-Universitä­t. Er ist Autor vieler Bestseller, die mittlerwei­le als Standardwe­rke gelten.

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Foto: Thilo Rückeis, Imago Images Herfried Münkler: „Wir müssen uns auf tief greifende und dauerhafte Veränderun­gen unseres Alltagsver­haltens einstellen.“

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