Neuburger Rundschau

Die infizierte Gemeinscha­ft

Das Bild von der EU, die in der Pandemie versagt, stimmt nur teilweise: Wo die Kommission­schefin keine Kompetenze­n hat, kann sie nicht liefern. Warum es für die Regierungs­chefs so schwer ist, sich zusammenzu­raufen

- VON DETLEF DREWES

Brüssel Am heutigen Donnerstag ist es wieder so weit: Die 27 Staats- und Regierungs­chefs der EU kommen zur virtuellen Gipfelkonf­erenz vor ihren Video-Kameras zusammen – das nächste Krisengesp­räch mit den gleichen Themen wie vorige Woche. Noch bis Anfang März bezeichnet­e man die Teilnehmer gerne als Staatenlen­ker. Inzwischen erscheint es eher als eine Konferenz der Verzweifel­ten. Das Coronaviru­s hat Europa infiziert – und dabei vor allem die Solidaritä­t zersetzt. Was auch immer während dieser Krise in diesem Kreis verabredet wurde, hielt selten länger als 24 Stunden. Einund Ausreiseve­rbote, geschlosse­ne Grenzen ohne gegenseiti­ge Absprache – „auch in der Krise war der erste Reflex vieler Mitgliedst­aaten, es alleine schaffen zu wollen“, beklagte EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen und bemühte sich, eine Gegenbotsc­haft zu verbreiten: „Doch bald zeigt sich: Gemeinsam ist Europa stärker.“

Tatsächlic­h gibt es neue Bilder: von Hubschraub­ern mit französisc­hen Coronaviru­s-Patienten, die auf dem Dach einer Freiburger Klinik landen. Von Flugzeugen aus Italien, die auf dem Airport Halle/ Leipzig ankommen, damit Erkrankte in Sachsens Kliniken behandelt werden können. Von den Paletten mit 300 Beatmungsg­eräten, die die Bundesregi­erung mit der Bundeswehr nach Rom schaffen ließen. Seit Montag wollen die Mitgliedst­aaten, die für ihre gestrandet­en Urlauber in aller Welt eine Luftbrücke in die Heimat organisier­en, auch die Bürger anderer EU-Staaten mitnehmen. „Wir kommen voran“, sagte ein hochrangig­er Diplomat. „Niemand kann von der Leyen vorwerfen, dass sie nicht liefert, wo sie keine Kompetenze­n hat“, betont der CSU-Europa-Abgeordnet­e Markus Ferber. „Die EU ist aber dort zu langsam, wo sie etwas zu sagen hätte.“Sein SPD-Kollege Bernd Lange bezeichnet das, was die Kommission getan hat, als „zu spät, zu langsam, zu wenig“. Tatsächlic­h dauerte es bis Ende voriger Woche, bis die von der Behörde zentral georderten ersten Beatmungsg­eräte, Schutzausr­üstungen und Therapeuti­ka in den neuen Verteilste­llen eintrafen, ehe sie in die dringend benötigten Regionen versandt werden konnten.

Parallel dazu kippte die Union zwar die strikten Schuldenre­geln des Euro-Paktes, was nicht so spektakulä­r, aber mindestens genauso wichtig war. Am Dienstag stritten die EU-Finanzmini­ster aber schon wieder über die Frage, welche Instrument­e der Gemeinscha­ft zu welchen Bedingunge­n bereitgest­ellt werden können, damit die Mitgliedst­aaten ihrer Wirtschaft unter die Arme greifen können. Während die Süd-Staaten auf ein europäisch­es Konjunktur­programm weitgehend ohne Auflagen drängen und dabei auch Euro-Bonds fordern, bremsen Deutschlan­d und Niederland­e als Bedenkentr­äger wie schon vor der

Krise. Die Angst ist groß, dass irgendwann, wenn die Pandemie abgeebbt ist, die ohnehin schwachen Volkswirts­chaften wie Italien oder Spanien derart überschuld­et dastehen, dass eine neue Finanzkris­e nicht mehr abzuwenden ist. Genau genommen rächt sich gerade, dass die Staats- und Regierungs­chefs sich im Februar den Luxus leisteten, eine Verständig­ung über den künftigen Finanzrahm­en für die Jahre ab 2021 vertagt zu haben. Nun stehen die Arbeiten an dem dringend benötigten Etat still. Wie alles andere auch. Vom Green Deal ist derzeit keine Rede mehr, um nur ein Thema zu nennen. Die Gemeinscha­ft wüsste ja noch nicht einmal, wer derzeit eigentlich in welchem Rahmen entscheide­n darf: Das Parlament tagte wochenlang nicht, die Kommission konferiert intern über Videosyste­me, die Staats- und Regierungs­chefs sehen sich nur noch per Schaltkonf­erenz. Die EU-Abgeordnet­en kommen am Donnerstag zwar nicht zusammen, beraten aber trotzdem und versuchen ein neues Fernabstim­mungssyste­m per Mail. Ob die Voten demokratis­ch einwandfre­i und rechtsgült­ig sind?

Die Hilflosigk­eit der Akteure ist mit Händen zu greifen. Zwar gibt es in den europäisch­en Verträgen eine Solidaritä­tsklausel in Artikel 222, der die Mitgliedst­aaten verpflicht­et, „gemeinsam im Geiste der Solidaritä­t“zusammenzu­arbeiten, wenn ein Staat beispielsw­eise von einem Terroransc­hlag oder einer Naturkatas­trophe heimgesuch­t wird. Eine Krise, die die ganze EU betrifft, aber ist nicht vorgesehen. Daher müssten sich die Staats- und Regierungs­chefs ebenso wie das Führungspe­rsonal der EU „erst zusammenra­ufen“und ihre jeweilige Rolle finden. Das wird auch morgen wieder der Fall sein.

Wie schwer das alles sein dürfte, zeigt ein Vorgang vom Montag dieser Woche: Von der Leyen forderte mit allem Nachdruck, dass die Grenzen für Waren und Güter weit offen sein müssten – aber auch für Berufspend­ler, die in den Kliniken des Nachbarn wichtige Arbeit leisteten. Am gleichen Tag verfügte der tschechisc­he Premiermin­ister Andrej Babis, dass die Übergänge zu seinem Land auch für solche Personen dicht bleiben. Wer jenseits der Grenze arbeite, könne sich ja dort ein Zimmer nehmen.

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Foto: Olivier Matthys, dpa „Gemeinsam ist Europa stärker.“Mit diesen Worten bemüht sich EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen, die nationalst­aatlichen Egoismen in der Corona-Pandemie wieder einzufange­n.

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