Der Eurovision-Ersatz-Contest
Deutschland muss sich 2020 seinen eigenen ESC basteln – der echte wurde ja abgesagt. Dabei gehen gleich zwei Konkurrenzveranstaltungen ins Rennen
Hamburg/Köln Es gab eine Zeit, in der man Stefan Raab fast alles zugetraut hätte – und diese Zeit hatte viel mit dem Eurovision Song Contest zu tun. Das war 2010. Unter der Ägide des einstigen Metzgerlehrlings gewann damals eine junge Frau namens Lena Meyer-Landrut den ESC – und rettete die Ehre der jahrelang chronisch scheiternden ESC-Musiknation Deutschland. Für diesen Samstag hat sich Raab wieder so eine Rettungsmission vorgenommen.
Diesmal aber geht es nicht nur um ein Land – sondern gleich um den ganzen Wettbewerb. Und noch schwieriger: um das ESC-Gefühl. Der Grund: Der Eurovision Song Contest, der an diesem Tag in Rotterdam stattfinden sollte, fällt wegen der Corona-Pandemie aus, was für alle ESC-Fans ein echter Jammer ist. Perlwein und Chips waren im Geiste ja schon kaltgestellt.
Um den Schmerz zu lindern, nehmen am selben Tag sowohl der ESCSender ARD als auch ProSieben – initiiert von Raab – Ersatz ins Programm. Im Ersten wird in einem nationalen Finale ein „Sieger der Herzen“gekürt. ProSieben baut den Wettbewerb in alternativer Form nach und nennt ihn „Free European Song Contest“.
zu den Fakten. In der ARD-Show „Eurovision Song Contest 2020 – das deutsche Finale“(20.15 Uhr) treten zehn diesjährige ESC-Teilnehmer gegeneinander an. Drei davon werden sogar live – wenn auch vor leeren Rängen – in der Hamburger Elbphilharmonie auftreten: Ben & Tan (Dänemark), DaŁi Freyr og GagnamagniŁ (Island) und The Roop (Litauen). Auch Ben Dolic, der für Deutschland ins Rennen gegangen wäre, singt sein Lied „Violent Thing“. Deutschland selbst kann ihn aber nicht zum „deutschen Sieger der Herzen“wählen – das ist alte ESCRegel. Barbara Schöneberger moderiert die Show. Im Anschluss um 21.55 Uhr zeigt das Erste dann die internationale Ersatz-Revue „Europe Shine a Light“aus dem niederländischen Hilversum. Dabei werden die Künstler geehrt, denen Corona den ESC-Auftritt vermasselt hat. Ein Voting gibt es nicht.
Parallel buhlt ProSieben um die Gunst der ESC-Fans. Dragqueen Conchita Wurst und Steven Gätjen präsentieren live aus Köln den „Free European Song Contest“(20.15 Uhr), den man aber auch Raab-Contest nennen könnte – der Name des „Raabinators“, der sich 2015 vom Bildschirm zurückzog, schwebt über allem. Auch wenn er die Show zunächst mal nur produziert. Bei diesem „#FreeESC“gehen 15 Länder ins Rennen, vertreten von Künstlern, die einen Bezug zu der jeweiligen Nation haben. Für Italien ist das etwa Sängerin Sarah Lombardi. Für Kasachstan singt Teenie-Idol Mike Singer, für Kroatien Schlagersängerin Vanessa Mai. Die Türkei wird von Rapper Eko Fresh zusammen mit seinem Kollegen Umut Timur vertreten, Bulgarien von Sängerin Oonagh. Fast die Hälfte der Teilnehmer ist aber noch nicht bekannt. Insbesondere gilt das für den deutschen Beitrag.
Stefan Raab höchstpersönlich verkündete vielsagend, es werde sich um „eine echte Legende“hanZunächst deln. Seither wird gerätselt, ob Raab damit sich selbst gemeint haben könnte – was ein Comeback wäre. ProSieben ist natürlich nicht sonderlich bemüht, diese Spekulation einzufangen. Moderator Gätjen sagt etwa: „Alles kann, nichts muss. Und wir kennen Stefan, wir wissen, er ist für Überraschungen gut.“Am Ende wird – ganz klassisch – quer durch Europa geschaltet, um die Punkte einzusammeln. In Deutschland, Österreich und der Schweiz werden diese per Zuschauervoting vergeben. In den anderen Ländern vergibt eine Art Jury die Wertung.
Die Idee kam laut ProSieben von Raab. Er habe einfach angerufen. ProSieben hat schon angekündigt, dass der Sender den „#FreeESC“„nicht nur in diesem Jahr“machen will. „Stefan sprüht vor Ideen und wir alle wissen, dass er einen ausgezeichneten Musikgeschmack hat und weiß, wie man gutes Fernsehen macht“, sagt Conchita Wurst, die den ESC 2014 gewann. „Außerdem ist er ESC-Spezialist, deshalb war es ja ganz naheliegend, dass er eine Show auf die Beine stellt, als bekannt wurde, dass es dieses Jahr keinen ESC geben würde.“Oder kurz: „Wer, wenn nicht er?“Gregor Tholl
und Jonas-Erik Schmidt, dpa