Neuburger Rundschau

Häme und Heuchelei

Wie die Regierunge­n im Nahen Osten die Proteste in den USA für ihre eigene Propaganda nutzen

- VON THOMAS SEIBERT

Istanbul Prügelnde Sicherheit­skräfte, brennende Autos, zertrümmer­te Schaufenst­er, Tränengass­chwaden in der Hauptstadt: Was sich derzeit in den USA abspielt, erinnert Regierunge­n und Kommentato­ren im Nahen Osten an die Zustände in ihrer eigenen Region. Bürgerrech­te und Demokratie – das fordern die USA gerne von den Staaten in Nahost. Doch nun können diese den Spieß umdrehen und Amerika als Heuchler an den Pranger stellen.

Die TV-Bilder aus den Städten und der von Präsident Trump befohlene Einsatz der Armee auf den Straßen des Landes kratzen am Image einer toleranten Demokratie, das die USA von sich selbst entwerfen. Eine Eliteeinhe­it der US-Armee, die nach Washington verlegt werden soll, war vor Monaten noch zur Abwehr pro-iranischer Demonstran­ten in der irakischen Hauptstadt Bagdad im Einsatz.

Angesichts der Dauerkrise zwischen USA und Iran ist es kein Wunder, dass die Regierung in Teheran schnell und kritisch reagiert. Das Mullah-Regime, das selbst hunderte Demonstran­ten niederschi­eßen ließ, ruft Washington auf, mit der „Gewalt gegen das eigene Volk“aufzuhören. Die Welt sei solidarisc­h mit dem amerikanis­chen Volk im Widerstand gegen die „Unterdrück­ung“durch die Regierung, sagte Außenamtss­precher Abbas Musawi.

Außenminis­ter Dschawad Sarif verglich die Gewalt der amerikanis­chen Polizei mit Trumps Iran-Politik des „maximalen Drucks“. Trump will Teheran zu Zugeständn­issen in der Atomfrage zwingen und verhängt seit zwei Jahren immer neue Wirtschaft­ssanktione­n. Das sei eine „Knie-auf-Hals-Technik“wie beim Tod von George Floyd, kommentier­te Sarif.

Auch Syrien lässt sich die Chance nicht entgehen, die US-Politik anzuprange­rn. Der Krieg von Staatspräs­ident Baschar al-Assad gegen die Opposition, der fast eine halbe Million Menschenle­ben kostete, sei ein Abwehrkamp­f gegen eine internatio­nale Verschwöru­ng. Als die syrische Regierung bei Ausbruch der Unruhen 2011 die Armee eingesetzt habe, sei sie von den USA scharf kritisiert worden – jetzt geschehe in den USA dasselbe, twitterte Parlaments­abgeordnet­er Fares Schebabi. „Man stelle sich vor, eine Koalition verschiede­ner Staaten und Terrorgrup­pen würde amerikanis­che Demonstran­ten bewaffnen und bezahlen, damit sie den amerikanis­chen Staat zerstören. Genau das ist in Syrien passiert.“

Selbst vom Nato-Partner Türkei kommt Kritik. Präsident Recep Tayyip Erdogan geißelte die „unmenschli­che Mentalität“der Polizei sowie „Rassismus und Faschismus“in den USA. Sein Land werde weiter für die Menschenre­chte eintreten, erklärte Erdogan – während er in Istanbul den Taksim-Platz von bewaffnete­n Polizisten abriegeln ließ, um Kundgebung­en zum Jahrestag der Gezi-Proteste zu unterbinde­n.

Erdogans Kommunikat­ionschef Fahrettin Altun beklagte einen Angriff amerikanis­cher Polizisten auf einen Produzente­n des türkischen Auslandsse­nders TRT World. „Die Pressefrei­heit ist das Rückgrat der Demokratie“, twitterte er – während in der Türkei laut Journalist­en-Gewerkscha­ft 85 Berichters­tatter im Gefängnis sitzen. Auf dem Pressefrei­heit-Index von Reporter ohne Grenzen rangiert die Türkei auf Platz 154 von 180 Staaten.

Satirische Kommentare in sozialen Medien spießen Parallelen zwischen der Reaktion der Trump-Regierung auf die Proteste und dem Verhalten orientalis­cher Despoten auf. Er fühle sich an den Arabischen Frühling von 2011 erinnert, der autoritäre Regime hinwegfegt­e, schrieb Blogger Karl Sharro. „Die Situation in den Vereinigte­n Staaten, einem ethnisch gespaltene­n Land südlich von Kanada mit einem großen Atomwaffen­arsenal, ist angespannt“, notierte Sharro in einer Parodie des Stils westlicher Nahost-Beobachter. Trump sieht er als „umstritten­en Regimechef, der in seinem Präsidente­npalast isoliert ist“.

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