Gustave Flaubert: Frau Bovary (87)
Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshungrig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg
Emma betete, oder vielmehr sie zwang sich zum Beten in der Hoffnung, daß der Himmel sie mit einer plötzlichen Eingebung begnaden würde. Um diese Hilfe des Himmels herabzuschwören, starrte sie auf den Glanz des Tabernakels, atmete sie den Duft der weißen Blumen in den großen Vasen, lauschte sie auf die tiefe Stille der Kirche, die ihre innere Aufregung nur noch steigerte. Sie erhob sich und wandte sich dem Ausgang zu. Da trat der Schweizer rasch auf sie zu: „Gnädige Frau sind gewiß hier fremd? Wollen Sie sich die Sehenswürdigkeiten der Kirche ansehen?“
„Aber nein!“rief der Adjunkt aus.
„Warum nicht?“erwiderte sie. Ihre wankende Tugend klammerte sich an die Madonna, an die Bildsäulen, die Grabmäler, an jeden Vorwand. Programmgemäß führte sie der Schweizer nach dem Hauptportal zurück und zeigte ihnen mit seinem Stock einen großen Kreis von schwarzen Steinchen ohne irgendwelche Beigabe noch Inschrift. „Das hier“, sagte er salbungsvoll, „ist der Umfang der berühmten Glocke des Amboise. Sie wog vierzigtausend Pfund und hatte ihresgleichen nicht in Europa. Der Meister, der sie gegossen, ist vor Freude gestorben…“„Weiter!“drängte Leo.
Der Biedermann setzte sich in Bewegung. Vor der Kapelle der Madonna blieb er stehen, machte eine Schulmeisterbewegung mit dem Arm und wies mit dem Stolze eines Landmannes, der seine Saaten zeigt, auf eine Grabplatte.
„Hier unter diesem sichren Stein ruht Peter von Brézé, Edler Herr von Varenne und Brissac, Großseneschall von Poitou und Verweser der Normandie, gefallen in der Schlacht bei Montlhéry am 16. Juli l465.“
Leo biß sich in die Lippen und trat vor Ungeduld von einem Fuße auf den andern.
„Und hier rechts, dieser Ritter im Harnisch auf dem steigenden Rosse, ist sein Enkel Ludwig von Brézé, Edler Herr von Breval und Montchauvet, Graf von Maulevrier, Baron von Mauny, Kammerherr des Königs, Ordensritter und ebenfalls Verweser der Normandie, gestorben am 23. Juli 1531, an einem Sonntag, wie die Inschrift besagt. Und dieser Mann hier unten, der eben ins Grab steigen will, zeigt ihn ebenfalls. Eine unübertreffliche Darstellung der irdischen Vergänglichkeit!“
Frau Bovary nahm ihr Lorgnon. Leo stand unbeweglich dabei und sah sie an. Er wagte weder ein Wort zu sprechen noch eine Geste zu machen. So sehr entmutigte ihn das langweilige Geschwätz auf der einen und die Gleichgültigkeit auf der andern Seite. Der unermüdliche Cicerone fuhr fort:
„Hier diese Frau, die weinend neben ihm kniet, ist seine Gemahlin Diana von Poitiers, Gräfin von Brézé, Herzogin von Valentinois, geboren 1499, gestorben Anno 1566. Und hier links die weibliche Gestalt mit dem Kind auf dem Arm ist die heilige Jungfrau. Jetzt bitte ich die Herrschaften hierher zu sehen. Hier sind die Grabmäler derer von Amboise! Sie waren beide Kardinäle und Erzbischöfe von Rouen. Dieser hier war Minister König Ludwigs des Zwölften. Die Kathedrale hat ihm sehr viel zu verdanken. In seinem Testament vermachte er den Armen dreißigtausend Taler in Gold.“
Ohne stehen zu bleiben und fortwährend redend, drängte er die beiden in eine Kapelle, die durch ein Geländer abgesperrt war. Er öffnete es und zeigte auf einen Stein in der Mauer, der einmal eine schlechte Statue gewesen sein konnte.
„Dieser Stein zierte dereinst“, sagte er mit einem tiefen Seufzer, „das Grab von Richard Löwenherz, König von England und Herzog von der Normandie. Die Kalvinisten haben ihn so zugerichtet, meine Herrschaften. Sie haben ihn aus Bosheit hier eingesetzt. Hier sehen Sie auch die Tür, durch die sich Seine Eminenz in die Wohnung begibt. Jetzt kommen wir zu den berühmten Kirchenfenstern von Lagargouille!“
Da drückte ihm Leo hastig ein großes Silberstück in die Hand und nahm Emmas Arm. Der Schweizer war ganz verblüfft über die Freigebigkeit des Fremden, der noch lange nicht alle Sehenswürdigkeiten gesehen hatte. Er rief ihm nach:
„Meine Herrschaften, der Turm, der Turm!“
„Danke!“erwiderte Leo.
„Er ist wirklich sehenswert, meine Herrschaften! Er misst vierhundertvierzig Fuß, nur neun weniger als die größte ägyptische Pyramide, und ist vollständig aus Eisen…“
Leo eilte weiter. Seine Liebe war seit zwei Stunden stumm wie die Steine der Kathedrale. Er hatte keine Lust, sie nun auch noch durch den grotesken käfigartigen Schornstein zwängen zu lassen, den ein überspannter Eisengießer keck auf die Kirche gesetzt hatte. Das wäre ihr Tod gewesen.
„Wohin gehen wir nun?“fragte Emma. Ohne zu antworten, lief er rasch weiter, und Frau Bovary tauchte schon ihren Finger in das Weihwasserbecken am Ausgang, als sie plötzlich hinter sich ein Schnaufen und das regelmäßige Aufklopfen eines Stockes hörten. Leo wandte sich um.
„Meine Herrschaften!“„Was gibts?“
Es war wieder der Schweizer, der ein paar Dutzend dicke ungebundene Bücher, mit seinem linken Arme gegen den Bauch gedrückt, trug. Es war die Literatur über die Kathedrale.
„Troddel!“murmelte Leo und stürzte aus der Kirche.
Ein Junge spielte auf dem Vorplatz.
„Hol uns eine Droschke!“Der Knabe rannte über den Platz, während sie ein paar Minuten allein dastanden. Sie sahen einander an und waren ein wenig verlegen.
„Leo… wirklich… ich weiß nicht… ob ich darf!“Es klang wie Koketterie. In ernstem Tone setzte sie hinzu: „Es ist sehr unschicklich, wissen Sie das?“
„Wieso?“erwiderte der Adjunkt. „In Paris macht mans so!“
Dieses eine Wort bestimmte sie wie ein unumstößliches Argument. Aber der Wagen kam nicht. Leo fürchtete schon, sie könne wieder in die Kirche gehen. Endlich erschien die Droschke.
„Fahren Sie wenigstens noch ans Nordportal!“rief ihnen der Schweizer nach.
„Und sehen Sie sich ,Die Auferstehung‘, das ,Jüngste Gericht‘, den ,König David‘ und ,Die Verdammten in der Hölle‘ an!“
„Wohin wollen die Herrschaften?“fragte der Kutscher.
„Fahren Sie irgendwohin!“befahl Leo und schob Emma in den Wagen. Das schwerfällige Gefährt setzte sich in Bewegung.
Der Kutscher fuhr durch die Große Brückenstraße, über den Platz der Künste, den Kai Napoleon hinunter, über die Neue Brücke und machte vor dem Denkmal Corneilles Halt.
„Weiter fahren!“rief eine Stimme aus dem Inneren.
Der Wagen fuhr weiter, rasselte den Abhang zum Lafayette-Platz hinunter und bog dann schneller werdend nach dem Bahnhof ab.
„Nein, geradeaus!“rief dieselbe Stimme.