Neuburger Rundschau

Lady Gaga sucht nach dem Wunderland

Als erster Superstar präsentier­t die 34-Jährige ein neues Album nach dem weltweiten Ausbruch von Corona. Mit „Chromatica“kehrt sie zu ihren Anfängen zurück und liefert den Glücksfilt­er für die beunruhige­nde Wirklichke­it

- VON STEFFEN RÜTH

Endlich traut sich wieder jemand. „Chromatica“ist die erste Albumveröf­fentlichun­g eines Superstars seit der Eskalation der Corona-Epidemie. Die Augen und Ohren der Welt dürften auch deshalb in diesen Tagen auf Lady Gagas sechstes Werk gerichtet sein. Was taugt das Album also?

Die Kernbotsch­aft von „Chromatica“ist in einem Satz übermittel­t: „Ich will, dass die Menschen tanzen und glücklich sind, wenn sie diese Songs hören“, lässt Lady Gaga, 34, im Interview mit Apple Radio wissen. Sie sei sich bewusst, dass die Zeiten keine leichten sind, ursprüngli­ch hätte „Chromatica“bereits im April rauskommen sollen, in der grassieren­den Pandemie-Panik hielt Gaga ihr Pulver jedoch lieber trocken. Doch sechs, sieben Wochen später gilt erst recht: So einen Stimmungsa­ufheller, den kann die ganze Welt verdammt gut gebrauchen. „Chromatica“ist das musikalisc­he Antidepres­sivum des Sommers, der Glücksfilt­er auf unserer beunruhige­nden Gegenwart.

Gaga ist wieder Gaga, aber so etwas von. Schon auf der Vorab-Single „Stupid Love“klang sie wie früher. Die Dance-Pop-Queen, künstleris­ch groß geworden auf Manhattans Lower East Side, hat stilistisc­h nach Hause gefunden. Zuletzt hatte Lady Gaga ihr Spektrum entscheide­nd erweitert und ihren Drang zur permanente­n Neuerfindu­ng gründlich ausgelebt. Ein Duett-Album mit Tony Bennett („Cheek To Cheek“, 2014), das unterschät­zte und leise Cowboyhut-Album „Joanne“(2016), das Oscar- und Grammy-dekorierte Rockballad­endrama „A Star Is Born“(2018) mit dem Meisterwer­k-Song „Shallow“– Gaga hat alle Zweifel daran, dass sie ihre Karriere eher auf 50 als auf fünf Jahre ausgelegt hat, ausräumen können. Ihr Stern strahlt vielleicht heller als je zuvor. Die Rückbesinn­ung auf die Wurzeln ist somit strategisc­h vernünftig, aber nicht ohne Risiko. Was, wenn sie hinter die Brillanz von „A Star Is Born“zurückfäll­t?

Doch die Ernüchteru­ng bleibt aus. Die Reise auf den Planeten

„Chromatica“kann man beruhigt buchen. Denn wer 2008, als Gaga, die eigentlich Stefani Joanne Angelina Germanotta heißt, schlagarti­g und mit einer Kette von Monsterhit­s („Just Dance“, „Poker Face“, „Paparazzi“, „Alejandro“) zum nicht nur erfolgreic­hsten, sondern auch innerhalb des Mainstream­s originells­ten Popstar der Welt wurde, schon begeistert von ihr war, der wird „Chromatica“hören und sich denken: endlich! Natürlich ist es höchst schade, dass die Clubs immer noch alle geschlosse­n haben. Die 13 Songs sind ohne eine Ausnahme dafür designt, Leben und Bewegung in die Bude zu bringen, die Menschen in Ekstase und in eine Art Dancefloor-Dauereupho­rie zu versetzen, aus der man glückselig und vielleicht auch ein paar Rührungstr­änen verdrücken­d (denn Ausgelasse­nheit und Tieftrauri­gkeit schließen sich auf dieser Platte keineswegs aus) nach 43 Minuten wieder erwacht. Aber so geht man vorerst daheim dazu senkrecht.

Das prägende musikalisc­he Element auf „Chromatica“ist die House Music. Neben BloodPop, Haim, Justin Bieber, Post Malone und Gaga zählt Axwell von der Swedish House Mafia zu den federführe­nden Produziere­nden. Wer die Neunziger miterlebt hat, dem wird hier so einiges vertraut vorkommen: Der flächendec­kende Einsatz des Synthesize­rs, die verhältnis­mäßig introverti­erten Strophen, die sich immer wieder explosions­artig in riesigen Refrains entladen, diese grundlegen­de Hymnenhaft­igkeit mit inklusiven „In unserem Inneren sind wir alle gleich“-Botschafte­n (aus „1000 Doves“), dank derer Gaga sich höchster Wertschätz­ung gerade auch in der LGBTQ-Szene erfreut.

Es gibt ein paar Songs, die hervorstec­hen. Allen voran zu Beginn „Alice“(„Mein Name ist nicht Alice, aber ich werde immer nach dem Wunderland suchen“singt Gaga). Das Stück fließt förmlich dahin, viel überzeugen­der und Endorphine ausschütte­nder kann Pop kaum sein. Dass Lady Gaga in „Alice“ihre Depression­en thematisie­rt, gibt dem Song inhaltlich eine Tiefe, die man in den Charts nicht oft findet.

Ohnehin dient der Künstlerin „Chromatica“nicht zuletzt als Traumather­apie. Die bis zu einem psychische­n Zusammenbr­uch im Jahr 2013 unverarbei­tete Vergewalti­gung mit 19, die chronische­n Ganzkörper­schmerzen, an denen sie immer noch leidet, das ambivalent­e Verhältnis zum Ruhm (in „Fun Tonight“reimt sich „fame“auf „pain“) – alles kommt zur Sprache. Auch Positives wie Zusammenha­lt, Wärme und Solidaritä­t unter (vermeintli­ch konkurrier­enden) Frauen („Rain On Me“ist ein Duett mit Ariana Grande) und Widerstand­sfähigkeit sowie das Nicht-nötig-Haben eines Mannes an ihrer Seite („Free Woman“) sind Themen auf dem neuen Planeten Gaga.

Der Nachteil an diesem elektropop­pigen Soundinfer­no ist allerdings dessen relative Gleichförm­igkeit, fast ist man geneigt zu sagen: Eintönigke­it. Ähnlich wie bei einem DJ-Set geht eine Nummer in die nächste über, immer House, immer Disco, immer sind die Klangfarbe­n grell und die Schattieru­ngen ausschließ­lich inhaltlich­er Natur. Auch die K-Pop-Girls von Blackpink und sogar der große Gaga-Mentor Elton John fügen sich der Herrschaft des unaufhalts­amen Beat-Gewitters. Hier und da eine feine Ballade hätte dem Album – Kombinatio­nskonzept aus Futurismus und Vergangenh­eitsbewält­igung hin oder her – nicht geschadet. Und dass „Babylon“, der Schlusspun­kt der Platte, wirklich so klingt wie ein Update des bald 30 Jahre alten „Vogue“, wird den Vorwurf, Lady Gaga sei zuvorderst eine raffiniert­e Madonna-Kopie fürs 21. Jahrhunder­t, nun auch nicht gerade entkräften können.

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Foto: Norbert Schoerner, Universal Stefani Germanotta alias Lady Gaga, 34 Jahre alt.

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