Neuburger Rundschau

Im Schatten der endlosen Schwabinge­r Party

In seinem neuen Comic-Mehrteiler „Vatermilch“befasst sich der Münchner Uli Oesterle mit dem Abrutschen in die Obdachlosi­gkeit – ein schonungsl­oser Blick auf seine eigene Familienge­schichte

- VON CHRISTA SIGG

München „Papa Was a Rollin’ Stone“– einen besseren Soundtrack gibt es nicht zu dieser Geschichte. Denn was aufs Erste cool wirkt und nach Freizügigk­eit riecht, entpuppt sich wie im Erfolgsson­g der Temptation­s ganz schnell als Trauerspie­l. Freilich mit saukomisch­en Einlagen, das ist das Angenehme an den Graphic Novels von Uli Oesterle. Und für seinen neuen Mehrteiler „Vatermilch“braucht es schon eine feine Portion Humor und Ironie.

Es geht schließlic­h um das Abrutschen eines gewissen Rufus Himmelstos­s in die Obdachlosi­gkeit, umspült von viel Alkohol, man könnte auch sagen, befördert durch einen Cocktail aus Sex and Drugs and Rock ’n’ Roll. Er kommt ja gut an bei den Damen, dieser geschmeidi­ge Markisenve­rtreter mit Hang zur intensiven Kund(inn)enbetreuun­g. Ein Verschnitt aus Stenz, Spieler und Partyhengs­t ist er Mitte der 70er Jahre, immer lässig mit Schlaghose­n und Safari-Jackett überm weit aufgeknöpf­ten Hippie-Hemd. Der PS-starke Jaguar darf nicht fehlen, und fast so schnittig sitzt die Günter-Netzer-Frisur über den MegaKotele­tten. Ein Typ wie aus dem Bilderbuch.

Blöd nur, dass dieser Himmelstos­s im unwichtigs­ten Nebenjob auch noch Vater ist. Vom verzockten Geld lässt sich der Kühlschran­k allerdings nicht füllen, das ist das klassische Absturz-Drama, das bei Oesterle ganz nahe rückt: Der Münchner Comicautor verarbeite­t die eigene Familienve­rgangenhei­t und das mit frappieren­der Offenheit.

In einer zweiten Ebene hat sich der studierte Grafikdesi­gner dabei nonchalant selbst eingebaut. Als Sohn Victor Himmelstos­s zeichnet er wie ein Besessener, und natürlich ist er, wie alle Kreativen, mächtig unter Druck – und dabei ein lausiger Vater. Fast so wie Rufus. Aber da gönnt sich der Autor der viel beachteten „Hector Umbra“-Serie einige künstleris­che Freiheiten. Es gab ja auch große Lücken im Lebenslauf seines früh sich absentiere­nden Erzeugers, und die musste Oesterle mit „Erdichtete­m verfugen“, wie er im Nachwort bekennt.

Daraus ist eine aufgekratz­te Münchner Mischung mit viel wildem Schwabing geworden. Rufus Himmelstos­s verkehrt etwa im legendären Yellow Submarine an der Leopoldstr­aße, wo man die sündteuren Drinks zwischen Haien schlürft, die aus Bullaugen glotzen. Meeresgeti­er schaut auch beim Koksen auf dem Klo zu, und damit die Mädels hergehen, gibt es Champagner­duschen und Belugahäpp­chen. Bis Rufus im Rausch eine Mutter mit zwei Kindern in den Tod fährt, lebt er konsequent über seine Verhältnis­se.

Entspreche­nd hart fällt der soziaAbsti­eg aus. Vor dem Gourmettem­pel Tantris ist das Betteln sinnlos, und wer mit einem „Nur Scheine“-Schild vor der Asamkirche sitzt, wartet vergeblich auf milde Gaben. Rufus Himmelstos­s ist als Enzian süffelnder Penner immer noch ein asozialer Ignorant, das schildert Oesterle mit bitterem Witz („noch vor drei Monaten war ich in den Betten der göttlichst­en Frauenzimm­er zu Hause, jetzt habe ich nicht einmal mehr ein eigenes“) und präzisen Münchner Details. Die Stadt kann ja so elegant sein, wenn es die pekuniären Verhältnis­se erlauben.

Uli Oesterle, dessen Familie Ende der 60er Jahre von Karlsruhe an die

Isar gezogen war, konnte das vom Vorort Germering aus gut beobachten. 1975 hatte sich auch sein Vater Peter abgesetzt, um irgendwann auf den Straßen der alten badischen Heimat zu landen. Einmal noch sah ihn der Sohn lebend, 1989 war das bei der Beerdigung der Großmutter. Schwer vom Alkohol gezeichnet sei er gewesen, doch die Bilder sind wieder verblasst.

Als Oesterle dann 2010 vor dem Sarg des Vaters stand, begannen bald darauf die Gedanken in ihm loszuratte­rn. Wie ferngesteu­ert habe er alles in Skizzenbüc­hern notiert, „assoziativ, ohne Hintergeda­nken“. Das half ihm, mit diesem Tod – und mehr noch mit dem verle pfuschten Leben davor – umzugehen. In einem langen Prozess – auch mit Selbstvers­uchen unter Obdachlose­n – und mit einiger Fiktion hat Oesterle sein „Material“zu einem virtuosen Comic gewoben, von dem nun der erste von vier geplanten Bänden erschienen ist. Ob der fahrerflüc­htige Himmelstos­s gefasst wird, ob er zwischendu­rch noch eine Chance bekommt oder sich die Spirale immer nur weiter in die Tiefe dreht, wird sich zeigen. Bei einem Rollin’ Stone weiß man auch nie, wohin die Reise geht.

»Uli Oesterle: „Vatermilch“, Band 1: Die Irrfahrten des Rufus Himmelstos­s, Carlsen Verlag, 128 Seiten, 20 Euro

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Foto: Uli Oesterle, Carlsen Verlag Erst wird eine große ausgedehnt­e Lebenspart­y in der neuen Graphic Novel von Uli Oesterle gefeiert.
 ?? Foto: Uli Oesterle, Carlsen Verlag ?? Darauf folgt der Absturz ins Bodenlose: Die Hauptfigur Rufus Himmelstos­s landet auf der Straße und muss sich dort durchschla­gen.
Foto: Uli Oesterle, Carlsen Verlag Darauf folgt der Absturz ins Bodenlose: Die Hauptfigur Rufus Himmelstos­s landet auf der Straße und muss sich dort durchschla­gen.
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Uli Oesterle

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