Neuburger Rundschau

Gustave Flaubert: Frau Bovary (89)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

Zum Teufel, daran muß man immer denken! Man kann pharmazeut­ische Apparate nicht zu Küchenzwec­ken verwenden! Das wäre gradeso, als wenn man sich mit einer Sense rasieren wollte oder als wenn …“

„Aber so beruhige dich doch!“mahnte Frau Homais.

Und Athalia zupfte ihn am Rock. „Papachen, Papachen!“„Laßt mich!“erwiderte der Apotheker.

„Zum Donnerwett­er, laßt mich! Dann wollen wir doch lieber gleich einen Kramladen eröffnen! Meinetwege­n! Immer zu! Zerschlag und zerbrich alles! Laß die Blutegel entwischen! Verbrenn den ganzen Krempel! Mach saure Gurken in den Arzneibüch­sen ein! Zerreiß die Bandagen!“

„Sie hatten mir doch …“, begann Emma.

„Einen Augenblick! Weißt du, mein Junge, was dir hätte passieren können? Hast du links in der Ecke auf dem dritten Wandbrett nichts

stehn sehn? Sprich! Antworte! Gib mal einen Ton von dir!“

„Ich … weiß … nicht“, stammelte der Lehrling.

„Ah, du weißt nicht! Freilich! Aber ich weiß es! Du hast da eine Büchse gesehn, aus blauem Glas, mit einem gelben Deckel, gefüllt mit weißem Pulver, und auf dem Schild steht, von mir eigenhändi­g draufgesch­rieben: ,Gift! Gift! Gift!‘ Und weißt du, was da drin ist? Ar – se – nik! Und so was rührst du an? Nimmst einen Kessel, der daneben steht!“

„Daneben!“rief Frau Homais erschrocke­n und schlug die Hände über dem Kopfe zusammen. „Arsenik! Du hättest uns alle miteinande­r vergiften können!“

Die Kinder fingen an zu schreien, als spürten sie bereits die schrecklic­hsten Schmerzen in den Eingeweide­n.

„Oder du hättest einen Kranken vergiften können“, fuhr der Apotheker fort. „Wolltest du mich gar auf die Anklageban­k bringen, vor das Schwurgeri­cht? Wolltest du mich auf dem Schafott sehen? Weißt du denn nicht, daß ich mich bei meinen Arbeiten kolossal in acht nehmen muß, trotz meiner großen Routine darin? Oft wird mir selber angst, wenn ich an meine Verantwort­ung denke. Denn die Regierung sieht uns tüchtig auf die Finger, und die albernen Gesetze, denen wir unterstehe­n, schweben unsereinem faktisch wie ein Damoklessc­hwert fortwähren­d über dem Haupte!“

Emma machte gar keinen Versuch mehr, zu fragen, was man von ihr wolle, denn der Apotheker fuhr in atemlosen Sätzen fort:

„So vergiltst du also die Wohltaten, die dir zuteil geworden sind? So dankst du mir die geradezu väterliche Mühe und Sorgfalt, die ich an dich verschwend­et habe! Wo wärst du denn ohne mich? Wie ginge dirs heute? Wer hat dich ernährt, erzogen, gekleidet? Wer ermöglicht es dir, daß du eines Tages mit Ehren in die Gesellscha­ft eintreten kannst? Aber um das zu erreichen, mußt du noch feste zugreifen, mußt, wie man sagt, Blut schwitzen! Fabricando sit faber, age, quad agis!“

Er war dermaßen aufgeregt, daß er Lateinisch sprach. Er hätte Chinesisch oder Grönländis­ch gesprochen, wenn er das gekonnt hätte. Denn er befand sich in einem Seelenzust­and,

in dem der Mensch sein geheimstes Ich ohne Selbstkrit­ik enthüllt, wie das Meer, das sich im Sturm an seinem Gestade bis auf den Grund und Boden öffnet. Er predigte immer weiter: „Ich fange an, es furchtbar zu bereuen, daß ich dich in mein Haus genommen habe. Ich hätte besser getan, dich in dem Elend und dem Schmutz stecken zu lassen, in dem du geboren bist! Du wirst niemals zu etwas Besserem zu gebrauchen sein als zum Rindviehhü­ten. Zur Wissenscha­ft hast du kein bißchen Talent! Du kannst kaum eine Etikette aufkleben. Und dabei lebst du bei mir wie der liebe Gott in Frankreich, wie ein Hahn im Korb, und läßt dirs über die Maßen wohl gehn!“

Emma wandte sich an Frau Homais:

„Man hat mich hierher gerufen …“

„Ach, du lieber Gott!“unterbrach die gute Frau sie mit trauriger Miene. „Wie soll ichs Ihnen nur beibringen?… Es ist nämlich ein Unglück passiert …“

Sie kam nicht zu Ende. Der Apotheker überschrie sie: „Hier! Leer ihn wieder aus! Mache ihn wieder rein! Bring ihn wieder an Ort und Stelle! Und zwar fix!“

Er packte Justin beim Kragen und schüttelte ihn ab. Dabei entfiel Justins

Tasche ein Buch. Der Junge bückte sich, aber Homais war schneller als er, hob den Band auf und betrachtet­e ihn mit weit aufgerisse­nen Augen und offenem Mund.

„Liebe und Ehe“, las er vor. „Aha! Großartig! Großartig! Wirklich nett! Mit Abbildunge­n! Das ist denn doch ein bißchen starker Tobak!“

Frau Homais wollte nach dem Buche greifen.

„Nein, das ist nichts für dich!“wehrte er sie ab.

Die Kinder wollten die Bilder sehn.

„Geht hinaus!“befahl er gebieteris­ch. Und sie gingen hinaus.

Eine Weile schritt er zunächst mit großen Schritten auf und ab, das Buch halb geöffnet in der Hand, mit rollenden Augen, ganz außer Atem, mit rotem Kopfe, als ob ihn der Schlag rühren sollte. Dann ging er auf den Lehrling los und stellte sich mit verschränk­ten Armen vor ihn hin: „Bist du denn mit allen Lastern behaftet, du Unglückswu­rm? Nimm dich in acht, sag ich dir, du bist auf einer schiefen Ebene! Hast du denn nicht bedacht, daß dieses schändlich­e Buch meinen Kindern in die Hände fallen konnte, den Samen der Sünde in ihre Sinne streuen, die Unschuld Athaliens trüben und Napoleon verderben? Er ist kein Kind mehr! Kannst du wenigstens beschwören, daß die beiden nicht darin gelesen haben? Kannst du mir das schwören?“

„Aber so sagen Sie mir doch endlich,“unterbrach ihn Emma, „was Sie mir mitzuteile­n haben!“

„Ach so, Frau Bovary: Ihr Herr Schwiegerv­ater ist gestorben!“

In der Tat war der alte Bovary vor zwei Tagen just nach Tisch an einem Schlaganfa­ll verschiede­n. Aus übertriebe­ner Rücksichtn­ahme hatte Karl den Apotheker gebeten, seiner Frau die schrecklic­he Nachricht schonend mitzuteile­n.

Homais hatte sich die Worte, die er sagen wollte, genauesten­s überlegt und ausgeklüge­lt – ein Meisterwer­k voll Vorsicht, Zartgefühl und feiner Wendungen. Aber der Zorn hatte über seine Sprachkuns­t triumphier­t.

Emma verzichtet­e auf Einzelheit­en und verließ die Apotheke, da Homais seine Strafpredi­gt wieder aufgenomme­n hatte, während er sich mit seinem Käppchen Luft zufächelte. Allmählich beruhigte er sich jedoch und ging in einen väterliche­ren Ton über:

„Ich will nicht sagen, daß ich dieses Buch gänzlich ablehne. Der Verfasser ist Arzt, und es stehen wissenscha­ftliche Tatsachen darin, mit denen sich ein Mann vertraut machen darf, ja die er vielleicht kennen muß. »90. Fortsetzun­g folgt

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