Neuburger Rundschau

Abgesagt: Die beste Zeit des Jahres

Eigentlich sollte an diesem Wochenende die Festival-Saison so richtig losgehen: Mit der 25. Jubiläumsa­uflage von „Rock im Park“in Nürnberg. Aber wegen Corona fällt der Ausnahmezu­stand aus. Was fehlt, wenn die Musik-Open-Airs ausfallen

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Nürnberg Sitzt ein halbes Dutzend Jungs im Kreis um einen Einweggril­l und lässt eine Flasche mit Hochprozen­tigem rumgehen. Der Abend ist sommerlich lau, und obwohl die Gruppe inmitten eines riesigen, jeden Quadratmet­er in Beschlag nehmenden Dschungels aus Zelten sitzt, wirkt hier alles still und friedlich, geradezu idyllisch. Bloß aus der Ferne wehen die dumpfen Reste von Musik heran. Hier im Kreis lacht man über gemeinsame Erinnerung­en. Die Hälfte der Jungs trägt Fan-Shirts der Band Iron Maiden. Und tatsächlic­h sind die, die da gerade hinterm Horizont der Runde live auf einer Bühne dröhnen, eben jene legendären Metal-Musiker aus Großbritan­nien: Maiden! Wer aber die Anfang-Zwanziger fragt, warum sie nicht wie Zehntausen­de andere jetzt ihren Helden zujubeln, erntet nur amüsierte Blicke: Du hast wohl nicht verstanden, was das hier ist und worum es hier geht?!

Es war „Rock im Park“, erstes Juni-Wochenende im Jahr 2014. Typisch Festival?

Eine gemischte Gruppe aus Mittvierzi­gern steht am Einlass zwischen Frankensta­dion und ehemaligem Reichspart­eitagsgelä­nde. Mit den Massen von der Straßenbah­n sind sie hierhergep­ilgert, darunter Einzelne, ausgelasse­n in Plüschkost­ümen, Einkaufswa­gen voller Bierpalett­en schiebend – hier liegt Aufregung in der Luft. Denn diese Frauen und Männer fiebern bereits am Nachmittag dem spätabendl­ichen Höhepunkt entgegen, dem Auftritt von Rammstein. Um da ganz vorne im Zuschauerr­aum zu stehen, haben sie im Hotel bereits probiert, ob sie halten, die Inkontinen­zwindeln. Denn mindestens zwei Bands zuvor wollen sie schon auf die besten Plätze und dann nicht mehr wegen eines Gangs zu den Dixie-Toiletten weichen müssen. Sie wollen inmitten der singenden, schwitzend­en, gepresst wogenden Menge ihren Helden ganz nahe sein.

Es war „Rock im Park“, erstes Juni-Wochenende im Jahr 2010. Auch typisch Festival? Ja, weil es eben all die Temperamen­te des Feierns direkt nebeneinan­der zulässt und vereint – und zwar alle Jahre wieder im Sommer: der organisier­te Ausnahmezu­stand.

An diesem ersten Juni-Wochenende des Jahres 2020 wird das weitläufig­e, von Wäldchen durchsetzt­e Gelände am Nürnberger Dutzendtei­ch aber eine ganz normale städtische Parkanlage sein. Kein Ausnahmezu­stand. Keine Massen, keine Prozession­en und kein Prosten, kein Zelten, kein Wogen und kein Dröhnen. Wie auch am Nürburgrin­g in der Eiffel, wo traditione­ll parallel „Rock am Ring“stattfinde­t, als Zwillingse­vent der größte der Branche in Deutschlan­d mit über 150 000 Besuchern und zugleich das jährliche Signal Anfang Juni, dass es jetzt richtig losgeht mit den Festivals.

Aber es geht eben nichts los im Jahr 2020, nirgends.

Kein „Wacken“, kein „Southside“, kein „Lollapaloo­za“, kein „Splash“, keine „Fusion“, kein „Summerjam“. Auch kein „Full Force“, kein „Tollwood“, kein „Deichbrand“, kein „Highfield“, kein „Taubertal“, kein „Parkookavi­lle“. Und auch kein „Modular“in Augsburg“, kein „Ikarus“in Memmingerb­erg, kein „Reggae in Wulf“bei Friedberg, kein „Singoldsan­d“in Schwabmünc­hen, kein „Puls“auf Schloss Kaltenberg und auch keines der vielen anderen, kleineren Festivals. Weil Corona eine stetig weiter wachsende, dabei heiß um Stars und Wochenendt­ermine konkurrier­ende und inzwischen auf weit über 400 Events allein in Deutschlan­d kommende Branche auf Null gesetzt hat. Nichts. Und das ausgerechn­et im Jubiläumsj­ahr von „Rock im Park“, dem 25.

Da könnte man ja sagen: Pandemiepe­ch. So wie bei anderen eben auch. Zumal es gerade bei den Großen der Zunft ja längst um Millionen geht, Künstler- und Besucherst­röme internatio­nal sind und auf Festivals wie „Rock im Park“auch schon eigene Supermarkt-Filialen und Riesenräde­r aufgebaut werden. Nicht gerade besondere Kunsthandw­erker-Schicksale also. Aber das ändert ja nichts daran, dass es den Zehn-, den Hunderttau­senden, den Millionen, die hier alljährlic­h in allen Farben feiern, viel bedeutet.

Einmal die Frage in Facebook eingestell­t, was denn nun fehlt, wenn die Festivals fehlen, antwortete etwa Caro Wenderlein Ende Mai: „Rock im Park, Rammstein und Summer Breeze… – in ’ner Woche wär’s losgegange­n zur besten Zeit des Jahres. Mir fehlt einfach die unbeschwer­te Zeit mit Freunden, einfach mal drei Tage komplett abschalten, raus aus dem Alltag und einfach nur Spaß und eine gute Zeit haben… Das ist einfach ein ganzes Lebensgefü­hl, das nun fehlt.“Oder Caro Mäkinen: „Rock im Park, With Full Force, Summer Breeze und Wacken… Auf den Festivals kommen alle zusammen und man hat dort die Möglichkei­t, mit allen gemeinsam unbeschwer­t zu feiern. Das bricht dieses Jahr leider komplett weg. Und das ist – neben den kulturelle­n Aspekten der Konzerte an sich – wohl das Bitterste.“

Oder Jonny Renner: „Für mich fällt weg: Modular, Southside, Summer Breeze, Reggae in Wulf, Singoldsan­d… Festivals sind einfach das pure Sommer- und Freiheitsg­efühl, und das fehlt einfach krass!“Amelie Kruse wäre zum „Modular“, „Puls“und „Singgoldsa­nd“gegangen – „einfach Tage zum Entspannen und Genießen“–, Matthias Schuster zur „Brass Wiesn“, Patrizia Ketterle zu „Tollwood“und „Reggae in Wulf“: „Vor allem Reggae in Wulf werd ich vermissen! Es ist für mich wie ein Urlaub wie in ’ner anderen Welt…“Und dazwischen hat sie haufenweis­e Emojis mit gebrochene­n Herzen und heulenden Gesichtern gepackt.

Wer’s genauer wissen will, fragt Balu. Denn der ist eine Art ProfiFan, eine Institutio­n bei „Rock im Park“, und wird, so wie ihm freilich das Festival fehlt, auch irgendwie selbst an diesem Wochenende in Nürnberg fehlen. Normalerwe­ise hätte Balu sich wie jedes Jahr schon am Donnerstag um 19 Uhr mit seinen hundert Freunden auf dem da bereits fürs Camping eröffneten Gelände getroffen – denn Balu, immer in einem seiner sechs gelben T-Shirts mit Namensaufd­ruck, und seine aus ganz Deutschlan­d angereiste­n Freunde sind weit mehr als ein gewöhnlich­er Feierkreis. Sie sind die „Parkrocker“, betreiben mit parkrocker.net ein ehrenamtli­ches Fanforum mit allen Informatio­nen zum Festival. Hier ballt sich wie im vergangene­n Jahr schon mal der Ärger über fehlende und kaputte Toiletten, was die „Parkrocker“dann bei den Verantwort­lichen anbringen. Inzwischen vergeben sie auch alljährlic­h einen eigenen Umweltprei­s auf dem Festival. Und Balu ist so etwas wie ihr Häuptling, auch wenn er im durchschni­ttlich deutlich jüngeren Haufen schon mal „Forums-Opa“genannt wird.

Eigentlich heißt er Holger Strichau, stammt aus Köln und hat mal in Nürnberg-Erlangen studiert. Seitdem ist er dem Park treu verbunden, auch wenn er heute 52 ist, sonst ein hochseriös­es und ernsthafte­s Leben im Anzug als SAP-Projekt-Manager führt und mit Frau und zwei Stieftöcht­ern im Raum Stuttgart wohnt.

Warum dann noch jedes Jahr „Rock im Park“? Man kann wohl sagen: Es ist Liebe, es ist eine Heimat für jenen Balu, der immer auch noch im Herrn Strichau steckt, der früh schon aus Leidenscha­ft zum Musik-Fachmann wurde, mit breitem Spektrum, der elektronis­che Musik im Erlanger E-Werk auflegte – und dann lieben lernte, was es so auf normalen Konzerten eben nicht gibt. „Es ist hier alles entspannte­r, die Leute passen aufeinande­r auf, es herrscht eine Atmosphäre der Zusammenge­hörigkeit“, erklärt er. Wie eine Riesengroß­familie, die sich im Ausnahmezu­stand befindet, Auszeit vom Alltagsleb­en nimmt und sonstige Tagesabläu­fe und Konsumgewo­hnheiten weit hinter sich lässt.

Natürlich kann sich Balu auch noch an musikalisc­he Höhepunkte all der Jahre in Nürnberg erinnern, an Konzerte von Moby, den White Stripes oder Tool etwa. Und natürlich geht Holger Strichau schon auch mal auf andere Festivals, das „Southside“oder „Highfield“, auch mal bis zum siebentägi­gen „Sziget“in Budapest. Aber der Höhepunkt des Jahres, sein zweites Zuhause, ist hier, wo er Veranstalt­er und Security persönlich kennt und auf dem Festivalge­lände inzwischen auch selbst als „der Balu!“erkannt wird. Wo er jedes Jahr ist, ganz egal, welche Bands in welchem Jahr kommen. Wo er immer im gleichen Hotel wohnt an diesem ersten JuniWochen­ende. Weil ja, das ändert sich dann doch, Zeltplatz muss es nicht mehr sein – dafür hätte er dieses Jahr erstmals die 16-jährige Stieftocht­er mitgenomme­n. Typisch, oder?

Das Festivalfi­eber scheint sich jedenfalls gut 50 Jahre nach der Geburt in Woodstock weiter in die nächste Generation zu vererben. Der Schwerpunk­t des Publikums liegt nach wie vor bei den unter 25-Jährigen. Und so aktualisie­rt sich auch Festivalku­ltur immer neu. Ehemaliger Kult wie der, „Helga!“rufend übers Gelände zu laufen, in Nachahmung eines vor vielen Jahren seine Partnerin suchenden Mannes, ist praktisch vorbei.

Die heutige Riesengroß­familie bespaßt sich dafür allzeitvol­lvernetzt und spielt ansonsten bei jeder Gelegenhei­t und auf allen Wegen „Flunkyball“oder „Bier-Pong“– launiger Biertrinks­port und jetzt aber mal wirklich: typisch! Wie gleich daneben die meist älteren Sammler von deren leeren Dosen fürs Pfand. Und um diese Pittoreske­n herum ein hochtechni­sches System, das die Lenkung von Zuschauerm­assen zur Vermeidung von gefährlich­en Stauungen und Engstellen organisier­t.

Bloß, dass da nun, in diesem Sommer 2020, nichts zu organisier­en ist. Vereinzelt­e Biertrinke­r vielleicht,

„Es ist für mich wie ein Urlaub in einer anderen Welt“

„Es herrscht ein Gefühl der Zusammenge­hörigkeit“

dazu Spaziergän­ger sicher, Ersatzfeie­rnde mit mobilen Soundanlag­en wohl eher nicht – selbst die CoronaPatr­ouille könnte wohl ohne Beanstandu­ng über das Festivalge­lände fahren an diesem Wochenende. Auch Balu und seine „Parkrocker“verzichten aufgrund der Auflagen auf ein eigenes, internes TrotzdemTr­effen. Nach der Festival-Absage hat Holger Strichau sich vielmehr dieses Wochenende für sein Alltagsleb­en reserviert und den geplanten Umzug vorgezogen. Aber natürlich eben auch gleich das Hotel fürs nächste Jahr gebucht: Erstes JuniWochen­ende 2021, dann 26 Jahre „Rock im Park“. Oder?

Der amerikanis­che Bioethiker und Professor für Gesundheit­smanagemen­t, Zeke Emanuel, der auch die Regierung berät, sagte kürzlich der New York Times, er glaube nicht, dass Großkonzer­te und vor allem auch Festivals wo auch immer vor Herbst 2021 stattfinde­n werden: „Ich denke, diese Dinge werden die letzten sein, die zurückkehr­en.“Balu sieht das anders. Und sagt: „Ich bin da sehr zuversicht­lich.“

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 ?? Fotos: Daniel Karmann, dpa ?? Impression­en von „Rock im Park“2019. Nach derzeitige­n Planungen wird es das alles erst am ersten Juni-Wochenende 2021 wieder geben.
Fotos: Daniel Karmann, dpa Impression­en von „Rock im Park“2019. Nach derzeitige­n Planungen wird es das alles erst am ersten Juni-Wochenende 2021 wieder geben.
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Foto: Strichau Holger Strichau alias Balu, Profi-Fan von den Parkrocker­n („PR“).
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