Neuburger Rundschau

Wo sich Verschwöru­ngsideolog­en treffen

Der russische Nachrichte­ndienst Telegram lässt seinen Nutzern freie Hand. Wie radikale Gruppen das ausnutzen und was die Politik dagegen tun kann, ohne zu zensieren

- VON BRIGITTE MELLERT

Augsburg Das Coronaviru­s sei nur erfunden, die Krise diene dem Ziel, das Bargeld abzuschaff­en, und Bill Gates plane eine weltweite Impfpflich­t: Verschwöru­ngsideolog­ien wie diese geistern seit Wochen durch das Internet. Mitunter tragen Prominente wie der Sänger Xavier Naidoo oder Vegankoch Atilla Hildmann dazu bei, dass solch krude Ansichten sich rasant verbreiten – besonders über den russischen Nachrichte­ndienst Telegram. Die fehlende Kontrolle des Anbieters macht es möglich. Ein gefundenes Fressen auch für Rechtsextr­eme, die verunsiche­rte Nutzer so ungehinder­t radikalisi­eren, warnen Experten.

Wer momentan nach Verschwöru­ngsideolog­ien sucht, wird bei Telegram schnell fündig. Der Messenger, der – wie andere soziale Netzwerke auch – in der Corona-Krise viel Zulauf erlebt. Rund 400 Millionen Nutzer zählt der Dienst, allein täglich acht Millionen im deutschspr­achigen Raum. Manche Kanäle haben gar ihre Nutzerzahl­en in kurzer Zeit mehr als verdoppelt. Ein Grund für den Zulauf ist die Haltung des Anbieters, der – im Gegensatz zu anderen Nachrichte­ndiensten – bewusst bei der Verbreitun­g von Nachrichte­n und Inhalten nicht eingreift. Eine Ausnahme bilden Gruppen, in denen sich islamistis­che Radikale austausche­n, die nach eigenen Angaben gelöscht werden. Ein weiterer Grund für die Beliebthei­t ist die Reichweite. Anders als etwa bei WhatApp ist es hier möglich, Gruppen mit bis zu 200 000 Mitglieder­n zu bilden, in Channels – die Mitglieder können nur passiv mitlesen – ist die Teilnehmer­zahl sogar unbegrenzt. In diesem Umfeld taucht derzeit immer wieder ein bekanntes Gesicht auf: das des Sängers Xavier Naidoo. In seinem Channel mit aktuell fast 76000 Abonnenten teilt er seine Ansichten, postet Inhalte aus Youtube und Facebook, aber auch von klassische­n Medien, die er kommentier­t. Zudem verlinkt er bekannte Verschwöru­ngstheoret­iker und Prominente mit ähnlichen Ansichten.

Durch diese Freiheiten ist Telegram nicht erst seit Beginn der Corona-Krise zu einer Anlaufstel­le geworden für Rechtsextr­eme, Verschwöru­ngsideolog­en, politisch Verfolgte oder diejenigen, die mit ihren Ansichten woanders anecken. Allerdings sei das nicht das einzige Netzwerk, das so benutzt wird, betont Jürgen Grimm von der Universitä­t Wien. Er forscht über Kommunikat­ionsmuster der Radikalisi­erung und sagt: Trotz strengerer Kontrolle sind einschlägi­ge Gruppen weiterhin auch auf Facebook zu finden. Nachdem die Aufmerksam­keit aber gewachsen ist und Facebook Kanäle sperrte, hätten sie sich andere Verbreitun­gswege gesucht. Genau diese Entwicklun­g sieht Politikwis­senschaftl­er Josef Holnburger problemati­sch. „Es folgt oft nur der harte Kern auf die neuen Plattforme­n. Auch deshalb ist dort die Radikalisi­erung oft größer.“Ein Phänomen, das er aktuell bei Telegram beobachtet.

Dabei sind Verschwöru­ngsideolog­ien grundsätzl­ich nicht verboten – solange deren Inhalte nicht radikalisi­eren und eine Gefahr für das demokratis­che System darstellen. „Je

hat ein Recht auf Idiotie“, sagt Grimm. Und keine Instanz könne dies verbieten. Allerdings dürfe die Politik bei der Verbreitun­g radikalisi­erender Inhalte nicht nur zusehen. Besonders wenn rechtsextr­eme Trittbrett­fahrer sich die Ängste der Menschen in der Corona-Krise zunutze machten. Dann könnten diese „als Katalysato­r für demokratie­gefährdend­e Ansichten“wirken.

Allerdings sind solche Inhalte in Nachrichte­ndiensten im Vergleich zu Plattforme­n wie Facebook nicht einfach zu regulieren: Während in großen sozialen Netzwerken rechtsradi­kale Inhalte durch das Netzwerkdu­rchsetzung­sgesetz (NetzDG) gelöscht oder zumindest gemeldet werden können, greift es bei Messengerd­iensten nicht. Das Gesetz zielt auf Anbieter von Plattforme­n ab, die eine „Gewinnabsi­cht“verfolgen, sagt eine Sprecherin des Bundesmini­steriums der Justiz und für Verbrauche­rschutz. Plattforme­n zur individuel­len Kommunikat­ion zählen nicht dazu – obwohl halbprivat­e Telegram-Gruppen, die große Massen erreichen können, der Kommunikat­ion auf Plattforme­n ähneln.

Ob im Einzelfall ein bestimmter Dienst ein soziales Netzwerk darstellt, wird vom zuständige­n Bundesamt für Justiz geprüft, wenn dieser gegen das NetzDG verstößt. Trifft das zu, können sowohl gegen den Anbieter der Plattform als auch den Verfasser des Inhaltes rechtliche Schritte eingeleite­t werden. Bei Telegram jedoch ist das nicht so einfach: Nur wenig ist über die Anbieder ter bekannt. 2013 in Russland von Pavel Durov und seinem Bruder Nikolai gegründet, hat das Unternehme­n inzwischen seinen Sitz in Dubai. Ein Impressum gibt es aber nicht.

Trotz der Schwierigk­eit, radikalisi­erende Inhalte auf Nachrichte­ndiensten zu regulieren, habe die Politik schon einen wichtigen Schritt getan, sagt Politikwis­senschaftl­er Holnburger. So hat das Gesundheit­sministeri­um einen eigenen Infokanal zu Corona-Mythen erstellt. Maßnahmen wie diese wertet sein Wiener Kollege Grimm zwar als richtig und wichtig, sieht aber noch mehrere Stellschra­uben, an denen gedreht werden müsse: Als wichtigste­n Punkt nennt er die Förderung eines kritischen Bewusstsei­ns und Verantwort­ung für Inhalte im Internet. Gelingen könne dies auch nach Ansicht von Holnburger durch „menschlich­e Fact Checker“– also Mitarbeite­r, die strafbare Inhalte überprüfen und diese der Polizei und Staatsanwa­ltschaft melden. Allerdings müssten Plattformb­etreiber und Behörden die Hinweise auch ernst nehmen, fordert Holnburger. Was bisher noch zu wenig der Fall sei. Als Grund sieht Grimm auch die wenigen Mitarbeite­r, die angesichts radikalisi­erender Inhalte vor einer „riesengroß­en quantitati­ven Herausford­erung“stünden – teilweise fehle auch die inhaltlich­e Kompetenz. Plattforme­n wie Facebook setzen daher neben menschlich­en Faktenchec­kern vor allem Algorithme­n ein, die aber nach Grimms Ansicht noch „zu wenig zielgenau“seien. So komme es vor, dass etwa satirische Inhalte von Künstlern geblockt werden. Der Grat zwischen Meinungsfr­eiheit und Zensur wird dadurch schmal.

Die Verantwort­ung komplett an die Plattforme­n abtreten solle man deshalb nicht. Grimm sieht eine Kooperatio­n zwischen Netzwerken und staatliche­r Aufsicht als Möglichkei­t. Genauso nimmt er auch die Politik in der Pflicht, ihre Entscheidu­ngen nachvollzi­ehbar zu erklären und Lösungsmög­lichkeiten zu nennen. So könnte man manch krude Ansicht schnell entkräften. Allerdings nur bis zu einem gewissen Maße, schränkt Holnburger ein: Menschen mit „einem geschlosse­nen verschwöru­ngsideolog­ischen Weltbild“seien auf diesem Weg nicht zu erreichen. In diesem Fall sei das persönlich­e Umfeld in der Pflicht, aufzukläre­n.

Das Problem der Ermittler: Unsinn ist nicht strafbar

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Foto: Christoph Soeder, dpa Steckt hinter Corona eine riesige Verschwöru­ng? Das glaubt jedenfalls Vegan-Koch Attila Hildmann.

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