Neuburger Rundschau

Stadtleben kehrt nur langsam zurück

Die Passantenz­ahlen in Bayerns Innenstädt­en steigen nur schleppend. Forscher Alain Thierstein ist sich sicher: Das Lebensgefü­hl dort wird über Corona hinaus leiden

- VON MAX KRAMER

Augsburg/München Die Krise hat unendlich viele Beziehunge­n auf die Probe gestellt – private, politische, wirtschaft­liche. Doch eine wird nachhaltig­en Schaden davontrage­n, da ist sich Alain Thierstein sicher: die vom Menschen zur Stadt oder genauer: zur Innenstadt. „Das ist längst mehr als eine Schlechtwe­tterphase“, sagt Thierstein, Städtefors­cher an der Technische­n Universitä­t München (TUM). „Die aktuelle Situation wird in das Unbewusste des Stadtmensc­hen eindringen und sich dort festhaken. Diese Lebendigke­it und Leichtigke­it, die wir noch im Oktober in den Städten hatten, ist weg – und wenn dieses Vertrauen weg ist, bleibt es so. Für mindestens vier, fünf Jahre.“

Auch wenn sich gerade an sonnigen Tagen der Eindruck aufdrängt, in den Städten sei so viel los wie vor Corona, ist die Situation von der Normalität tatsächlic­h noch ein gutes Stück entfernt. Das zeigen Daten des Kölner Start-ups Hystreet. Es misst per Laserscann­er die Zahl der Passanten, die durch ausgewählt­e Einkaufsst­raßen deutscher Innenstädt­e gehen. Die Passantenz­ahlen steigen in ganz Bayern zwar wieder, oft aber nur schleppend. Das Niveau des Jahresbegi­nns, als es deutlich kälter war, erreichen die aktuellen Werte meist nicht. Ein Beispiel: Am Samstag, 1. Februar, waren in der Neuhauser Straße in München knapp 120000 Menschen unterwegs. Am Pfingstsam­stag, dem mit Blick auf Passantenz­ahlen lebhaftest­en Tag seit Beginn der Corona-Krise, waren es rund 75 000.

Augsburg, Ingolstadt oder Ulm haben sich etwas schneller erholt als das bei Touristen besonders beliebte München, sind aber immer noch weit von den üblichen Passantenz­ahlen Anfang Juni entfernt. Städtefors­cher Alain Thierstein geht davon aus, dass zumindest mittelfris­tig deutlich weniger Menschen in den Innenstädt­en unterwegs sein werden. „Vor fast allen Geschäften sind Schlangen, jede Berührung wird als Bedrohung aufgefasst, manche Zonen sind gesperrt. Dadurch entsteht ein Gefühl des Unwohlsein­s, das sich mit jedem Tag verfestigt und Menschen zum Nachdenken bringt, ob sie überhaupt noch in die Stadt gehen sollen.“Für Metropolre­gionen genauso wie für Kleinstädt­e gelte: „Das Lebensgefü­hl wird über Corona hinaus leiden.“

Ist das Virus, sind die Ausgangsbe­schränkung­en also dafür verantwort­lich, dass die bayerische­n Innenstädt­e aussterben? „Nein. Corona beschleuni­gt nur extrem Entwicklun­gen, die längst im Gange sind“, sagt Thierstein. Das Stichwort laute Strukturwa­ndel. Er steht für den immer härteren Kampf des innerstädt­ischen Einzelhand­els, sich zu behaupten – gegen die Konkurrenz aus dem Internet, aber auch von großflächi­gen Einkaufsfl­ächen außerhalb. „Dass die Innenstadt­Lagen ausbluten, ist auch ein hausgemach­tes Problem“, sagt der Städtefors­cher. „Diese Entwicklun­g hat großen Filialen, Bauunterne­hmen und Kommunen finanziell genutzt. Die einzigarti­ge Lebendigke­it mancher Stadt hat man damit aber schon länger gekillt.“

Lösungen, mit denen die Innenstädt­e neu belebt werden könnten, gibt es nach Thierstein­s Ansicht durchaus. Er verweist auf eine Planungsph­ilosophie, die als „Shared Space“(„gemeinsam erfahrener Raum“) bezeichnet wird. Sie stammt aus den Niederland­en und fußt auf der Idee, dass sich alle Verkehrste­ilnehmer – Fußgänger, Fahrrad-, Auto- und Busfahrer – gleichbere­chtigt im öffentlich­en Straßenrau­m bewegen. „Schlaue Städte haben in der Corona-Krise Maßnahmen getroffen, die in diese Richtung gehen und sich beweisen werden.“Er nennt Wien, Paris, Mailand oder Berlin, wo schon früh Autospuren in Fahrradweg­e umgewandel­t wurden – eine Maßnahme, die nach längerem Zögern auch die Stadt München umgesetzt hat.

Eine wichtige Lebensader für die Innenstädt­e ist die Gastronomi­e. „Wenn ich in die Stadt gehe, möchte ich nicht nur zweckgebun­den einkaufen, sondern auch einen Kaffee trinken oder ein Eis essen“, sagt Thierstein. „Diese Kombinatio­n kleinerer Aktivitäte­n macht die Atmosphäre in einer Stadt aus.“Umso gefährlich­er könne eine zweite Shutdown-Welle werden. „Dann werden sich viele Geschäfte nicht mehr über Wasser halten können.“

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Foto: Sven Hoppe, dpa Bei schönem Wetter ist in den Innenstädt­en – etwa in München – viel los. Allerdings meist nicht so viel wie vor der Corona-Krise.

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