Neuburger Rundschau

Wenn der Respekt vor Leid verloren geht

Erst bangte man mit Maddies Eltern, dann verdächtig­te man sie. Auch Medien prägten die öffentlich­e Meinung. Dabei tragen sie gerade bei Berichten über Verbrechen große Verantwort­ung

- VON SARAH RITSCHEL

Es gibt nur wenige Kriminalfä­lle, in denen die öffentlich­e Meinung so sehr schwankt wie beim Verbrechen an Maddie McCann. Bangten und weinten die Menschen im Mai 2007 noch mit Maddies Eltern Kate und Gerry McCann um die Dreijährig­e, wurde das Ärztepaar später mit einem Verdacht belegt, den Boulevardm­edien in größtmögli­chen Lettern druckten: Die McCanns hätten ihr eigenes Kind verschwind­en lassen. Auch Qualitätsm­edien griffen die These auf, schließlic­h hatte die portugiesi­sche Polizei, eine seriöse Quelle, sie in die Welt gesetzt. Jetzt könnte alles anders sein: Tatverdäch­tig ist der 43-jährige Christian B., vorbestraf­t auch wegen sexuellen Missbrauch­s. Die Gerüchte über Kate und Gerry McCann macht das nicht vergessen, in Archiven und im Internet gären sie weiter.

Klaus Meier, Journalist­ik-Professor und Experte für Medienethi­k an der Universitä­t Eichstätt-Ingolstadt, sieht in der Berichters­tattung journalist­ische Grenzen überschrit­ten: „Nach meiner Beobachtun­g ist das, was den Eltern von Maddie McCann angetan wurde, die schlimmste und massivste Grenzübers­chreitung“, sagt Meier. „Das war beispiello­s: Der Respekt vor ihrem Leid war nicht mehr da, die Unschuldsv­ermutung aufgehoben. So etwas ist nicht rückholbar und schädigt die Eltern über ihr eigentlich­es Leid hinaus.“Gerade bei Boulevardm­edien herrsche „eine riesengroß­e Anfälligke­it für Grenzübers­chreitunge­n“. Er nimmt auch die Leser in die Verantwort­ung: „Natürlich sind sie mitverantw­ortlich für die fragwürdig­e Berichters­tattung über Verbrechen: Die journalist­ische Kost, die gefragt ist, wird dem Leser auch vorgesetzt.“

Die Details zu Maddies Verschwind­en haben sich ins kollektive Gedächtnis eingeprägt. Das leere Bett in der Ferienwohn­ung. Das offene Fenster. Die Eltern, die ihre Kinder allein schlafen ließen und mit Freunden Essen gingen: Stoff, der Schlagzeil­en schafft – auch solche, die im schlechtes­ten Fall beeinfluss­t sind von unseriösen Quellen oder vom subjektive­n Blick des Schreibers.

Letzteres muss keine Absicht sein. Den Wunsch, einen Täter seiner gerechten Strafe zuzuführen, teilt jeder zu Mitgefühl fähige Mensch – auch Journalist­en. Nur dürfen sie ihren Blick davon nicht verschleie­rn lassen und Fakten ignorieren. Für Boulevardm­edien aber ist es kalkuliert­es Geschäft, die Leser emotional zu packen, auch wenn die Quellenlag­e unübersich­tlich ist. Journalist­ik-Professor Meier nennt ein Beispiel: „Vier Monate nach der Tat behauptete ein portugiesi­sches Medium, Gerry McCann sei nicht Maddies Vater. In der BildZeitun­g wurde daraus die Schlagzeil­e: ,Gerry McCann nicht der Vater von Maddie!‘ – und die portugiesi­sche Zeitung diente als nicht hinterfrag­te, glaubwürdi­ge Quelle.“

Wie müsste eine ethisch einwandfre­ie Berichters­tattung aussehen? Der Experte verweist auf den Pressekode­x, der Richtlinie­n für die journalist­ische Arbeit definiert. Die Unschuldsv­ermutung wahren, Respekt vor dem Leid der Opfer zeigen. Abseits dieses „Grundgeset­zes“muss jeder Journalist sich regelmäßig eines in Erinnerung rufen: auch noch so plausible Indizienke­tten kritisch zu beleuchten.

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Klaus Meier

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