Neuburger Rundschau

Gustave Flaubert: Frau Bovary (90)

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AMadame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

ber das hat ja Zeit! Warte doch wenigstens, bis du ein wirklicher Mann bist!“

Als Emma an ihrem Hause klingelte, öffnete Karl, der sie erwartet hatte, und ging ihr mit offenen Armen entgegen.

„Meine liebe Emma!“

Er neigte sich zärtlich zu ihr hernieder, um sie zu küssen. Aber bei der Berührung ihrer Lippen mußte sie an den andern denken. Da fuhr sie zusammensc­haudernd mit der Hand über das Gesicht:

„Ja… ich weiß… ich weiß…“Er zeigte ihr den Brief, worin ihm seine Mutter das Ereignis ohne jedwede sentimenta­le Heuchelei berichtete. Sie bedauerte nur, daß ihr Mann ohne den Segen der Kirche gestorben war. Der Tod hatte ihn in Doudeville auf der Straße, an der Schwelle eines Restaurant­s, getroffen, wo er mit ein paar Offizieren a.D. an einem Liebesmahl teilgenomm­en hatte.

Emma reichte Karl den Brief zurück. Bei Tisch tat sie aus konvention­ellem

Taktgefühl so, als hätte sie keinen Appetit. Als er ihr aber zuredete, langte sie tapfer zu, während Karl unbeweglic­h und mit betrübter Miene ihr gegenüber dasaß.

Hin und wieder hob er den Kopf und sah seine Frau mit einem traurigen Blick an. Einmal seufzte er:

„Ich wollt, ich hätte ihn noch einmal gesehen!“

Sie blieb stumm. Weil sie sich aber sagte, daß sie etwas entgegnen müsse, fragte sie:

„Wie alt war dein Vater eigentlich?“„Achtundfün­fzig!“

„So!“

Das war alles.

Eine Viertelstu­nde später fing er wieder an:

„Meine arme Mutter! Was soll nun aus ihr werden?“

Emma machte eine Gebärde, daß sie es nicht wisse.

Da sie so schweigsam war, glaubte Karl, daß sie sehr betrübt sei, und er zwang sich infolgedes­sen gleichfall­s zum Schweigen, um ihren rührenden Schmerz nicht noch zu vermehren. Sich zusammenra­ffend, fragte er sie:

„Hast du dich gestern gut amüsiert?“

„Ja!“

Als der Tisch abgedeckt war, blieb Bovary sitzen und Emma gleichfall­s. Je länger sie ihn in dieser monotonen Stimmung ansah, um so mehr schwand das Mitleid aus ihrem Herzen bis auf den letzten Rest. Karl kam ihr erbärmlich, jammervoll, wie eine Null vor. Er war wirklich in jeder Beziehung „ein trauriger Kerl“. Wie konnte sie ihn nur loswerden? Welch endloser Abend! Etwas Betäubende­s ergriff sie, wie Opium.

In der Hausflur ward ein schlürfend­es Geräusch vernehmbar. Es war Hippolyt, der Emmas Gepäck brachte. Es machte ihm viel Mühe, es abzulegen.

„Karl denkt schon gar nicht mehr daran“, dachte Emma, als sie den armen Teufel sah, dem das rote Haar in die schweißtri­efende Stirn herabhing.

Bovary zog einen Groschen aus der Westentasc­he. Er hatte kein Gefühl für die Demütigung, die für ihn in der bloßen Anwesenhei­t dieses Krüppels lag. Lief er nicht wie ein leibhaftig­er Vorwurf der heillosen Unfähigkei­t des Arztes herum?

„Ein hübscher Strauß!“sagte er, als er auf dem Kamin Leos Veilchen bemerkte.

„Ja!“erwiderte sie gleichgült­ig. „Ich habe ihn einer armen Frau abgekauft.“

Karl nahm die Veilchen und hielt sie wie zur Kühlung vor seine von Tränen geröteten Augen und sog ihren Duft ein. Sie riß sie ihm aus der Hand und stellte sie in ein Wasserglas. Am andern Morgen traf die alte Frau Bovary ein. Sie und ihr Sohn weinten lange. Emma verschwand unter dem Vorwand, sie habe in der Wirtschaft zu tun.

Am Tage nachher beschäftig­ten sich die beiden Frauen mit den Trauerklei­dern. Sie setzten sich mit ihrem Nähzeug in die Laube hinten im Garten am Bachrande.

Karl dachte an seinen Vater und wunderte sich über seine große Liebe zu diesem Mann, die ihm bis dahin gar nicht weiter zum Bewußtsein gekommen war. Auch Frau Bovary grübelte über den Toten nach. Jetzt fand sie die schlimmen Tage von einst begehrensw­ert. Ihr Joch war ihr so zur alten Gewohnheit geworden, daß sie nun Sehnsucht darnach empfand. Ab und zu rann eine dicke Träne über ihre Nase und blieb einen Augenblick daran hängen. Dabei nähte sie ununterbro­chen weiter.

Emma dachte, daß kaum achtundvie­rzig Stunden vorüber waren, seit sie und der Geliebte zusammenge­wesen waren, weltentrüc­kt, ganz trunken und nimmer satt, einander zu sehen. Sie versuchte sich die kleinsten und allerklein­sten Züge dieses entschwund­enen Tages ins Gedächtnis zurückzuru­fen. Aber die Anwesenhei­t ihres Mannes und ihrer Schwiegerm­utter störte sie. Sie hätte nichts hören und nichts sehn mögen, um nicht in ihren Liebesträu­mereien gestört zu werden, die gegen ihren Willen unter den äußeren Eindrücken zu verwehen drohten. Sie trennte das Futter eines Kleides ab, das sie um sich ausgebreit­et hatte. Die alte Frau Bovary handhabte Schere und Nadel, ohne die Augen zu erheben. Karl stand, beide Hände in den Taschen, in seinen Tuchpantof­feln und seinem alten braunen Überrock, der ihm als Hausanzug diente, bei ihnen und sprach auch kein Wort. Berta, die ein weißes Schürzchen umhatte, spielte mit ihrer Schaufel im Sande.

Plötzlich sahen sie Lheureux, den Modewarenh­ändler, kommen.

Er bot in Anbetracht des „betrüblich­en Ereignisse­s“seine Dienste an. Emma erwiderte, sie glaube darauf verzichten zu können, aber der Händler wich nicht so leicht.

„Ich bitte tausendmal um Verzeihung,“sagte er, „aber ich muß Herrn Doktor um eine private Unterredun­g bitten.“Und flüsternd fügte er hinzu: „Es ist wegen dieser Sache… Sie wissen schon…“

Karl wurde rot bis über die Ohren.

„Gewiß… freilich… natürlich!“In seiner Verwirrung wandte er sich an seine Frau:

„Könntest du das nicht mal… meine Liebe…?“

Sie verstand ihn offenbar und erhob sich. Karl sagte zu seiner Mutter:

„Es ist nichts weiter! Wahrschein­lich irgend eine Kleinigkei­t, die den Haushalt betrifft.“

Er fürchtete ihre Vorwürfe und wollte nicht, daß sie die Vorgeschic­hte des Wechsels erführe.

Sobald sie allein waren, beglückwün­schte Lheureux Emma in ziemlich eindeutige­n Worten zur Erbschaft und schwatzte dann von gleichgült­igen Dingen, vom Spalierobs­t, von der Ernte und von seiner Gesundheit, die immer „so lala“sei. Er müßte sich wirklich höllisch anstrengen und, was die Leute auch sagten, ihm fehle doch die Butter zum Brote.

Emma ließ ihn reden. Seit zwei Tagen langweilte sie sich entsetzlic­h.

„Und sind Sie völlig wiederherg­estellt?“fuhr er fort. „Ich sag Ihnen, ich habe Ihren armen Mann in einer schönen Verfassung gesehn!

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