Auf Bambi-Mission im Moos
Leonhard Seitle und Reimund Walter suchen eine Karlshulder Wiese nach Rehkitzen ab. Mit Drohne und Wärmebildkamera spüren die Jäger die Jungtiere auf. Die moderne Technik schützt die Kitze vor tödlichen Mähmaschinen. Wie die Rettung von oben funktioniert
Karlshuld Behutsam stakst Jäger Leonhard Seitle durch die feuchte Wiese östlich der Karlshulder Moorwirtschaft. Die Ortsansässigen wissen, dass mit Moorwirtschaft das ehemalige Anwesen des Staatlichen Moorversuchsguts Karlshuld gemeint ist. Mit seinem Hirtenstock aus Haselnussholz, der ihm bis ans Kinn reicht, streift er die hüfthohen Wiesenrispen, den Glatthafer und die Straußgräser vorsichtig zur Seite. Es ist kurz nach fünf Uhr. Die Temperaturen liegen im einstelligen Bereich und die Sonne hat es noch nicht an den Himmel geschafft. Umso kälter, umso besser, ein Satz der im Lauf des Vormittags noch öfter fallen wird.
Ein Kuckuck ruft dem noch jungen Tag entgegen. Das markante Gezwitscher übertönt für einen kurzen Augenblick den gleichmäßigen Fluglärm der sechs Propeller, die eine Drohne in der Luft halten. Die Yuneec H520, die schwarz-orange Drohne des Jagdschutzvereins Neuburg, wirkt wie ein Fremdkörper in der grünen, unberührten Landschaft. Funkgeräte knarzen und rauschen, ein Mann meldet sich. Es ist die Stimme von Thomas Müller zu hören. „Do wo’d Drohne is, do is wos“, spricht Müller in tiefem Donaumooser Dialekt vom Wiesenrand
aus in sein Funkgerät. Die Steuerung, die er sich mit einem Tragegurt um den Hals gehängt hat, lässt er dabei keine Sekunde aus dem Blick.
So weit das Auge reicht Flachland. Kein Hügel und kein Wald sind zu sehen. Das Donaumoos gilt als das größte Niedermoor in Süddeutschland. Die Landschaft ist so eben, dass der Horizont noch weiter, noch unendlicher erscheint. Nur wenige Hundert Meter entfernt liegt die Gemeinde Karlshuld. Es ist die Heimat von Seitle und Müller. In den Häusern, die sich Kilometer für Kilometer an die lang gezogene Ingolstädter Straße schmiegen, ist an diesem Freitagmorgen noch kein Leben eingekehrt. Die Donaumoosgemeinde schläft, wenn Seitle gemeinsam mit seinem sechsköpfigen Helfertrupp zur Rehkitzsuche aufbricht. Mit einer Wärmebildkamera, die an einer Drohne befestigt ist, spüren sie die Jungtiere in dem hohen Gras auf und bewahren sie vor einem Mähtod.
Tausende Rehkitze werden laut Bayerischer Landesanstalt für Landwirtschaft jährlich bei der ersten Grünlandmahd grausam verstümmelt oder getötet. Das Muttertier, die Geiß, legt den Nachwuchs ganz bewusst in dem hohen Gras der Wiesen ab. Rehkitze laufen bei Gefahr nicht weg, sondern drücken sich instinktiv in das Versteck. Ihr gepunktetes Fell schützt sie vor natürlichen Feinden. Füchse und Bussarde erkennen das junge Niederwild nur schwer zwischen den hohen Halmen. Vor menschgemachten Gefahren wie der Frühjahrsmahd schützt die Tarnung die Rehkitze nicht. Tod oder schlimme Verstümmelungen sind die Folgen. Drohne und Wärmebildkamera sollen die jungen Rehe aufspüren, bevor sie unter die großen Mähbalken und Kreiselmäher geraten.
Konzentriert schaut Müller auf das kleine Display. Um die Thermoaufnahmen noch besser zu erkennen, kneift er die Augen zusammen. Es ist erst die zweite Drohnenmission des jungen Mannes in diesem Frühsommer. Jetzt ist Millimeterarbeit angesagt. Auf dem Bildschirm ist ein weißer Fleck zu erkennen. Handelt es sich um ein Rehkitz oder einen Maulwurfshügel, einen Junghasen oder ein leeres Schlaflager?
Seitle und seine Kollegen sind alarmiert und befolgen Müllers Anweisungen. Er lotst sie durch das hohe Gras zum vermuteten Kitz. Kreisförmig nähert sich die Truppe der Drohne, die 30 Meter über ihren Köpfen schwirrt. Ganz vorsichtig bahnen sie sich den Weg zum Rehkitzlager. Die hohen Gummistiefel schützen die Sucher vor den nassen Grashalmen. Der Grund ist so weich, dass sie bei jedem Schritt in dem kohlrabenschwarzen Boden versinken.
An Müllers Seite steht ein gestandener Jäger mit Schnauzer und Hut: Reimund Walter aus Kleinhohenried. Er gehört zu den erfahrensten Drohnenpiloten des Neuburger Jagdschutzvereins. Im vergangenen Jahr wurde er für seinen Einsatz bei der Rehkitzrettung per Drohne sogar mit der Hegenadel des Bayerischen Jagdverbands ausgezeichnet. Eine hohe Ehrung, die ihm selbst aber nicht so wichtig sei, sagt der Jäger. Ihm gehe es um das Wohl der Jungtiere.
Fehlalarm. Der weiße Punkt auf dem Thermobild ist nur ein Maulwurfshügel. Die schwarze Mooserde hat sich in der Sonne, die inzwischen aufgegangen ist, aufgeheizt. Die Wärmebildkamera kann Rehkitz und Erdhaufen nicht unterscheiden. „Am Morgen zählt jede Sekunde“, sagt Walter. Umso kälter die Lufttemperatur, umso besser werden die Aufnahmen, erklärt der Jäger. Und umso höher ist die Trefferquote.
Ein falscher Alarm entmutigt die Sucher nicht. Sie haben bereits vier Kitze an dem Morgen entdeckt. „Sie waren schon gut sechs Wochen alt“, sagt Seitle. Von ganz allein sind sie aufgesprungen und in das nah gelegene Biotop verschwunden. Seitle ist der Pächter des Jagdreviers, zu dem die Wiese gehört. Zusätzlich ist er der Leiter des Hegerings Zell, zu dem wiederum das Revier gehört. Ein Hegering ist ein Zusammenschluss von mehreren Jagdrevieren, erklärt er.
Seit 40 Jahren ist Seitle bereits Jäger. „Der Bestand hat sich verbessert“, sagt er zufrieden. Das habe auch mit den vielen Maßnahmen zu tun, da ist er sich sicher. Biotope, Brachland und Drohnenflüge schützen das Niederwild. Schon wendet er sich aber wieder der Mission, wie die Rehkitzsuche unter Jägern genannt wird, zu. Sein grüner Filzhut und die dunkle Regenhose sind nicht nur die perfekte Ausrüstung, sondern lassen ihn zwischen den Grün- und Beigetönen der Wiese fast verschwinden.
Ein Glockenläuten setzt ein. Sechs Schläge, für jede volle Stunde ein Schlag. Der Kirchturm von St. Ludwig sticht als höchstes Gebäude in der sonst so flachen Umgebung hervor. An den klobigen Gummistiefeln von Müller kleben Gräsersamen. Er niest und sagt zu sich: „Der Heuschnupfen bringt mi no um.“Ob das die Kollegen auf dem Feld per Funkgerät gehört haben? Inzwischen ist er alleine an der Steuerung. Walter hat sich den Suchern angeschlossen. Konzentriert starrt Müller auf das kleine Display. Wieder erkennt er einen weißen Punkt. Er schaltet die automatische Steuerung ab und lenkt die Drohne jetzt manuell. Die Suchtruppe ist bereits auf dem Weg zum Standort.
Vom Wiesenrand lässt sich nur erahnen, was sich gut 200 Meter entfernt abspielt. Ein hohes Fiepen, ein greller Laut, der durch und durch geht, ist plötzlich von der Wiese aus zu hören. Walter trägt ein noch ganz frisch gesetztes Kitz in das Biotop. Möglichst schnell, möglichst behutsam. Damit das Kitz keinen Menschengeruch annimmt, berührt der Jäger den kleinen Fellknäuel mit Handschuhen und Grasbüscheln. Die Geiß erkenne das Fiepen ihres Kitzes, erklärt Seitle. Sobald die Mission abgeschlossen ist, werde sie zu dem Jungtier zurückkehren.
Die zwischenzeitlich komplett aufgegangene Sonne taucht die Wiese in einen Gelbton. Die Strahlen tun gut. Sie wärmen nach dem kühlen Einsatz am frühen Morgen. Der langsam beginnende Berufsverkehr auf der Ingolstädter Straße ist zu hören. Höchste Zeit für die Jäger, ihre Mission für heute zu beenden. Noch am gleichen Tag mäht die junge Landwirtin, die das Stück Land gepachtet und bei der Suche mitgeholfen hat, die fünf Hektar große Wiese. Und das ohne die Sorge, einem jungen Rehkitz bei der Mahd zu schaden.