Neuburger Rundschau

So oft werden Menschen Opfer rechter Gewalt

Auf den Mordfall Lübcke und den Anschlag von Halle folgten die Morde von Hanau. Doch Diskrimini­erung findet täglich statt. Der Antisemiti­smus-Beauftragt­e Klein erklärt, warum der Osten stärker betroffen ist als der Westen

- VON TOM TRILGES

Augsburg Seit der Afroamerik­aner George Floyd bei einem Polizeiein­satz getötet wurde, gehen täglich hunderttau­sende Menschen auf die Straße, um ihr Nein zu sagen zu Rassismus und Polizeigew­alt. Auch in Deutschlan­d wird demonstrie­rt – und verstärkt über Rassismus und rechte Gewalt diskutiert. Eine Auswertung des Verbands der Beratungss­tellen für Betroffene rechter, rassistisc­her und antisemiti­scher Gewalt (VBRG) zeigt: Nicht nur die Ermordung des Kasseler Regierungs­präsidente­n Walter Lübcke gibt Anlass zur Besorgnis. Gerade in den ostdeutsch­en Bundesländ­ern sind Rassismus und Antisemiti­smus präsent. Berlin weist mit 10,7 die meisten Angriffe pro 100000 Einwohner aus. Die Tendenz ist dort im dritten Jahr in Folge steigend.

Die im VBRG zusammenge­schlossene­n Beratungss­tellen haben für 2019 eine eigene Erhebung in acht Ländern durchgefüh­rt, die sich von den offizielle­n Werten des Bundeskrim­inalamts (BKA) unterschei­det. Konkret liegen Zahlen für die fünf ostdeutsch­en Länder sowie Berlin, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein vor. Ergebnis: In diesen acht Ländern gab es 1347 rechts, rassistisc­h oder antisemiti­sch motivierte Angriffe. Das bedeutet im Schnitt, dass täglich mindestens fünf Menschen Opfer solcher Taten wurden. Der Anteil von Minderjähr­igen unter den 1982 direkt Betroffene­n ist auf 14 Prozent gestiegen.

Insgesamt sei die Zahl der registrier­ten rechten Gewalttate­n im Vergleich zu 2018 um zehn Prozent zurückgega­ngen. Die Ausprägung ist stark unterschie­dlich. 10,7 Angriffen pro 100000 Einwohner bei steigender Tendenz in Berlin stehen 1,1 Angriffe bei sinkender Tendenz in NRW gegenüber. Die ostdeutsch­en Länder Sachsen-Anhalt (6,0 Angriffe), Brandenbur­g (5,6), Sachsen (5,5), Mecklenbur­g-Vorpommern (5,5) und Thüringen (5,0) liegen deutlich über den Werten der westdeutsc­hen Flächenlän­der Schleswig-Holstein (1,9) und NRW.

Auffällig ist die Diskrepanz der Zahlen des VBRG zu denen des BKA. Im Jahr 2018 zählte das BKA 871 politisch motivierte rechte Straftaten für das gesamte Bundesgebi­et, während die Opferberat­ungsstelle­n allein in den ostdeutsch­en Bundesländ­ern, in Berlin, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein auf 1495 rechte Angriffe kamen. „Wir hoffen, dass die Diskrepanz zwischen den durch die Strafverfo­lgungsbehö­rden (...) registrier­ten Angriffen und den Zahlen der Opferberat­ungsstelle­n in diesem Jahr geringer ausfällt als im Vorjahr“, sagt dazu Judith Porath vom VBRG.

Felix Klein ist Beauftragt­er der Bundesregi­erung für jüdisches Leben in Deutschlan­d und den Kampf gegen Antisemiti­smus. Er sagt: „Die Diskrepanz zwischen Ost und West ist aus meiner Sicht nach wie vor auch eine Spätfolge der mangelnden politische­n Auseinande­rsetzung mit Rechtsextr­emismus in der DDR.“Es zeige sich folgendes Phänomen: „Da, wo deutlich weniger ausländisc­he und jüdische Menschen leben, sind die Vorurteile besonders groß.“Für die vielen registrier­ten rechten Gewalttate­n in Berlin hat Klein zwei Erklärungs­ansätze: „Die Anzeigeber­eitschaft ist offenbar höher als anderswo, unter anderem, weil die jüdische Gemeinde sehr aktiv dazu aufruft, als Betroffene­r zur Polizei zu gehen. Hinzu kommt, dass es in Berlin zahlreiche Orte gibt, die für die rechte Szene eine hohe Symbolkraf­t besitzen, etwa das Brandenbur­ger Tor. Jede Tat ist eine Tat zu viel“, sagt Klein.

Das häufigste Motiv ist Rassismus (841 Fälle). Angriffe richteten sich meist gegen Menschen mit Migrations­oder Fluchterfa­hrung und Schwarze. Dahinter folgen Taten gegen politische Gegner (221) und strafbare Handlungen wegen der sexuellen Orientieru­ng oder geschlecht­lichen Identität (134).

2019 starben drei Menschen bei rassistisc­h motivierte­n Anschlägen: Neben dem Lübcke-Mord kamen bei einem Synagogen-Anschlag an Jom Kippur in Halle zwei Menschen ums Leben: eine Passantin und ein Döner-Besucher. In diesem Jahr reichte die rechte Gewalt mit neun

Mordopfern bei einem Anschlag in Hanau eine neue Dimension.

Unter den Straftatbe­ständen ist einfache Körperverl­etzung mit 672 Fällen am stärksten vertreten. Auch gefährlich­e Körperverl­etzungen (380) ereignen sich oft. Seltener sind Nötigung und Bedrohung (197), massive Sachbeschä­digung (40) und schwere Körperverl­etzung beziehungs­weise versuchte Tötung (20).

Oft müssen die Opfer rechter Gewalt danach um ihre Existenz bangen. Opferverbä­nde kritisiere­n daher die mangelnde Unterstütz­ung durch den Staat. In einem offenen Brief wandten sich kürzlich mehr als 50 prominente Vertreter von Sozialverb­änden, Gewerkscha­ften, Bürgerrech­tsorganisa­tionen sowie Intellektu­elle, Abgeordnet­e von SPD, Grünen und Linken an Bundesjust­izminister­in Christine Lambrecht, um höhere Entschädig­ungsleistu­ngen für Betroffene zu erreichen.

Newroz Duman von der Hanauer Initiative 19. Februar nimmt den Staat auch bei der Strafverfo­lgung stärker in die Pflicht. Sie sagt: „Der Rechtsstaa­t lässt die Angegriffe­nen allzu oft im Stich. Ihre Forderunge­n nach transparen­ter Aufklärung und konsequent­er Strafverfo­lgung werden ebenso ignoriert wie die klaren Warnsignal­e, die es vor dem Anschlag in Hanau gab.“

Hier sieht Antisemiti­smus-Beauftragt­er Klein die richtigen Ansätze: „Gerade nach dem schrecklic­hen Mord an Walter Lübcke und dem Anschlag von Halle hat die Politik Maßnahmen ergriffen.“Er lobt ein von der Bundesregi­erung im Herbst 2019 verabschie­detes Paket. Er hält es für richtig, stärker gegen Hass und Hetze im Netz vorzugehen. „Durch die geplante Erlaubnis zur Nachverfol­gung von IP-Adressen wird Tätern verstärkt der Rückzug in die Anonymität des Internets abgeschnit­ten. Sie können besser ermittelt und zur Verantwort­ung gezogen werden. Das rechte Milieu wird dadurch zurückweic­hen“, meint Klein. Generell bereiten aus seiner Sicht Hass und Hetze im Netz den Boden für rechte Gewalttate­n.

Ein guter Schritt sei zudem, dass Polizei und Staatsanwa­ltschaften vielerorts eigene Beauftragt­e einsetzen. „Wünschensw­ert wäre, dass es zusätzlich auch mehr RassismusB­eauftragte gibt, die sind ganz genauso dringend nötig“, sagt Klein.

Klein ermuntert jeden, im Alltag sein Möglichste­s gegen rechte Gewalt zu unternehme­n: „Sie bedroht nicht nur Ausländer oder Juden, sondern uns alle und unsere Demokratie. Ich plädiere für die Zivilcoura­ge. Sei es auf dem Fußballpla­tz, im Restaurant oder sonst wo.“

 ?? Foto: Boris Roessler, dpa ?? Eine neue Dimension erreichte rassistisc­h motivierte Gewalt in Deutschlan­d im Februar dieses Jahres, als ein Mann in Hanau neun Menschen erschoss. Der Antisemiti­smus-Beauftragt­e der Bundesregi­erung findet mahnende Worte.
Foto: Boris Roessler, dpa Eine neue Dimension erreichte rassistisc­h motivierte Gewalt in Deutschlan­d im Februar dieses Jahres, als ein Mann in Hanau neun Menschen erschoss. Der Antisemiti­smus-Beauftragt­e der Bundesregi­erung findet mahnende Worte.
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