So oft werden Menschen Opfer rechter Gewalt
Auf den Mordfall Lübcke und den Anschlag von Halle folgten die Morde von Hanau. Doch Diskriminierung findet täglich statt. Der Antisemitismus-Beauftragte Klein erklärt, warum der Osten stärker betroffen ist als der Westen
Augsburg Seit der Afroamerikaner George Floyd bei einem Polizeieinsatz getötet wurde, gehen täglich hunderttausende Menschen auf die Straße, um ihr Nein zu sagen zu Rassismus und Polizeigewalt. Auch in Deutschland wird demonstriert – und verstärkt über Rassismus und rechte Gewalt diskutiert. Eine Auswertung des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) zeigt: Nicht nur die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke gibt Anlass zur Besorgnis. Gerade in den ostdeutschen Bundesländern sind Rassismus und Antisemitismus präsent. Berlin weist mit 10,7 die meisten Angriffe pro 100000 Einwohner aus. Die Tendenz ist dort im dritten Jahr in Folge steigend.
Die im VBRG zusammengeschlossenen Beratungsstellen haben für 2019 eine eigene Erhebung in acht Ländern durchgeführt, die sich von den offiziellen Werten des Bundeskriminalamts (BKA) unterscheidet. Konkret liegen Zahlen für die fünf ostdeutschen Länder sowie Berlin, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein vor. Ergebnis: In diesen acht Ländern gab es 1347 rechts, rassistisch oder antisemitisch motivierte Angriffe. Das bedeutet im Schnitt, dass täglich mindestens fünf Menschen Opfer solcher Taten wurden. Der Anteil von Minderjährigen unter den 1982 direkt Betroffenen ist auf 14 Prozent gestiegen.
Insgesamt sei die Zahl der registrierten rechten Gewalttaten im Vergleich zu 2018 um zehn Prozent zurückgegangen. Die Ausprägung ist stark unterschiedlich. 10,7 Angriffen pro 100000 Einwohner bei steigender Tendenz in Berlin stehen 1,1 Angriffe bei sinkender Tendenz in NRW gegenüber. Die ostdeutschen Länder Sachsen-Anhalt (6,0 Angriffe), Brandenburg (5,6), Sachsen (5,5), Mecklenburg-Vorpommern (5,5) und Thüringen (5,0) liegen deutlich über den Werten der westdeutschen Flächenländer Schleswig-Holstein (1,9) und NRW.
Auffällig ist die Diskrepanz der Zahlen des VBRG zu denen des BKA. Im Jahr 2018 zählte das BKA 871 politisch motivierte rechte Straftaten für das gesamte Bundesgebiet, während die Opferberatungsstellen allein in den ostdeutschen Bundesländern, in Berlin, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein auf 1495 rechte Angriffe kamen. „Wir hoffen, dass die Diskrepanz zwischen den durch die Strafverfolgungsbehörden (...) registrierten Angriffen und den Zahlen der Opferberatungsstellen in diesem Jahr geringer ausfällt als im Vorjahr“, sagt dazu Judith Porath vom VBRG.
Felix Klein ist Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus. Er sagt: „Die Diskrepanz zwischen Ost und West ist aus meiner Sicht nach wie vor auch eine Spätfolge der mangelnden politischen Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus in der DDR.“Es zeige sich folgendes Phänomen: „Da, wo deutlich weniger ausländische und jüdische Menschen leben, sind die Vorurteile besonders groß.“Für die vielen registrierten rechten Gewalttaten in Berlin hat Klein zwei Erklärungsansätze: „Die Anzeigebereitschaft ist offenbar höher als anderswo, unter anderem, weil die jüdische Gemeinde sehr aktiv dazu aufruft, als Betroffener zur Polizei zu gehen. Hinzu kommt, dass es in Berlin zahlreiche Orte gibt, die für die rechte Szene eine hohe Symbolkraft besitzen, etwa das Brandenburger Tor. Jede Tat ist eine Tat zu viel“, sagt Klein.
Das häufigste Motiv ist Rassismus (841 Fälle). Angriffe richteten sich meist gegen Menschen mit Migrationsoder Fluchterfahrung und Schwarze. Dahinter folgen Taten gegen politische Gegner (221) und strafbare Handlungen wegen der sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität (134).
2019 starben drei Menschen bei rassistisch motivierten Anschlägen: Neben dem Lübcke-Mord kamen bei einem Synagogen-Anschlag an Jom Kippur in Halle zwei Menschen ums Leben: eine Passantin und ein Döner-Besucher. In diesem Jahr reichte die rechte Gewalt mit neun
Mordopfern bei einem Anschlag in Hanau eine neue Dimension.
Unter den Straftatbeständen ist einfache Körperverletzung mit 672 Fällen am stärksten vertreten. Auch gefährliche Körperverletzungen (380) ereignen sich oft. Seltener sind Nötigung und Bedrohung (197), massive Sachbeschädigung (40) und schwere Körperverletzung beziehungsweise versuchte Tötung (20).
Oft müssen die Opfer rechter Gewalt danach um ihre Existenz bangen. Opferverbände kritisieren daher die mangelnde Unterstützung durch den Staat. In einem offenen Brief wandten sich kürzlich mehr als 50 prominente Vertreter von Sozialverbänden, Gewerkschaften, Bürgerrechtsorganisationen sowie Intellektuelle, Abgeordnete von SPD, Grünen und Linken an Bundesjustizministerin Christine Lambrecht, um höhere Entschädigungsleistungen für Betroffene zu erreichen.
Newroz Duman von der Hanauer Initiative 19. Februar nimmt den Staat auch bei der Strafverfolgung stärker in die Pflicht. Sie sagt: „Der Rechtsstaat lässt die Angegriffenen allzu oft im Stich. Ihre Forderungen nach transparenter Aufklärung und konsequenter Strafverfolgung werden ebenso ignoriert wie die klaren Warnsignale, die es vor dem Anschlag in Hanau gab.“
Hier sieht Antisemitismus-Beauftragter Klein die richtigen Ansätze: „Gerade nach dem schrecklichen Mord an Walter Lübcke und dem Anschlag von Halle hat die Politik Maßnahmen ergriffen.“Er lobt ein von der Bundesregierung im Herbst 2019 verabschiedetes Paket. Er hält es für richtig, stärker gegen Hass und Hetze im Netz vorzugehen. „Durch die geplante Erlaubnis zur Nachverfolgung von IP-Adressen wird Tätern verstärkt der Rückzug in die Anonymität des Internets abgeschnitten. Sie können besser ermittelt und zur Verantwortung gezogen werden. Das rechte Milieu wird dadurch zurückweichen“, meint Klein. Generell bereiten aus seiner Sicht Hass und Hetze im Netz den Boden für rechte Gewalttaten.
Ein guter Schritt sei zudem, dass Polizei und Staatsanwaltschaften vielerorts eigene Beauftragte einsetzen. „Wünschenswert wäre, dass es zusätzlich auch mehr RassismusBeauftragte gibt, die sind ganz genauso dringend nötig“, sagt Klein.
Klein ermuntert jeden, im Alltag sein Möglichstes gegen rechte Gewalt zu unternehmen: „Sie bedroht nicht nur Ausländer oder Juden, sondern uns alle und unsere Demokratie. Ich plädiere für die Zivilcourage. Sei es auf dem Fußballplatz, im Restaurant oder sonst wo.“