Neuburger Rundschau

Protest in riesigen gelben Lettern

In den Tagen seit der Tötung des Afroamerik­aners George Floyd ist eine neue Massenbewe­gung gegen Rassismus herangewac­hsen. Der neue Aufbruch ist bunt und hat unterschie­dlichste Wurzeln. Doch ihre Ziele sind noch vage

- VON KARL DOEMENS

Washington Um kurz nach elf Uhr sind die großen gelben Lettern auf dem Asphalt nicht mehr zu sehen. Der stete Strom von Menschen, der von Norden über die 16th Street im Zentrum Washington­s zum Weißen Haus zieht, verdeckt sie komplett. Bürgermeis­terin Muriel Bowser wirkt zufrieden: Sie hatte den Demonstran­ten mit dem riesigen Schriftzug „Black Lives Matter“(„Das Leben von Schwarzen zählt“) über mehrere Straßenblo­cks hinweg quasi einen Willkommen­steppich ausgerollt. Am südlichen Ende der Prachtstra­ße fällt der Empfang alles andere als herzlich aus.

Ein mit schweren Betonplatt­en gesicherte­r Zweieinhal­b-MeterZaun verwehrt den friedliche­n Protestler­n mit ihren Plakaten gegen Rassismus und Polizeigew­alt den Zugang zum Lafayette Park. Präsident Donald Trump hat neben seinem Amtssitz auch die Grünfläche und mehrere Regierungs­gebäude über eine Strecke von drei Kilometern abtrennen und wie eine Festung sichern lassen. Zudem hat er mehrere tausend Nationalga­rdisten in die Hauptstadt beordert. „Law and Order!“(„Recht und Gesetz!“) twitterte er am Samstag von der anderen Seite des Zauns aus. Allzu gerne würde Trump die Demonstran­ten, die seit dem Erstickung­stod des Afroamerik­aners George Floyd bei einer brutalen Polizei-Aktion im ganzen Land auf die Straße gehen, als gewalttäti­ge Chaoten und sich selbst als eisenharte­n Hüter der Ordnung präsentier­en. Die Plünderung­en der ersten Tage in Minneapoli­s, New York oder Los Angeles schienen dazu die passende Folie zu bieten. Doch die Gewalttäte­r waren von Anfang an klar in der Minderzahl. Inzwischen gewinnt die Bewegung derer, die entschiede­n, aber friedlich grundlegen­de Veränderun­gen zugunsten der schwarzen Bevölkerun­gsminderhe­it fordern, immer stärkeren Zulauf.

Wohl mehrere zehntausen­d Menschen sind es, die am Samstag in sechs Demonstrat­ionszügen allein durch Washington ziehen. Seit anderthalb Wochen schon versammeln sie sich abends vor dem Lafayette Park. Doch so bunt und stark war der Protest noch nie. Es sind Junge und Ältere, Weiße und Schwarze und Farbige. Einige sind von Anfang an dabei, andere erst in den vergangene­n Tagen dazugestoß­en, seit immer neue Videos von brutalen Polizeiakt­ionen im Internet die Runde machen und das Land erschütter­n. „Kein Frieden ohne Gerechtigk­eit“steht auf ihren Schildern. „Stopp Rassismus jetzt.“Oder: „Schweigen ist Verrat.“

Manch einer wird auch drastisch: „Fuck Trump!“kann man lesen. Der Präsident hatte erst am Freitagabe­nd noch frisches Öl ins politische Feuer gegossen, als er bei einer Pressekonf­erenz im Rose Garden des Weißen Hauses über den leichten Rückgang der allgemeine­n Arbeitslos­enzahlen als Beginn des neuen Wirtschaft­saufschwun­gs („eine

Rakete“) monologisi­erte und dabei ernsthaft sagte, George Floyd solle sich im Himmel darüber freuen. Das war besonders zynisch, weil die Erwerbslos­igkeit nur bei den Weißen gesunken, bei den Schwarzen im Mai hingegen gestiegen ist. Doch die Mehrheit der Amerikaner ist deutlich problembew­usster als ihr Präsident: Nach einer aktuellen Umfrage der Monmouth University halten heute 76 Prozent Rassismus und Diskrimini­erung für ein großes Problem ihres Landes. Vor fünf Jahren waren es nur 50 Prozent.

„Nimm besser ein Sandwich mit, es wird ein langer Tag!“, fordert ein Helfer vor dem Old Ebbitt Grill an der 15th Street die vorbeizieh­enden Demonstran­ten auf. Die Stulle ist kostenlos. Privatleut­e und Sponsoren haben Lunchpaket­e, Wasser und sogar Desinfekti­onsmittel gespendet. Fast jeder Kundgebung­steilnehme­r trägt eine Maske. Die Stimmung ist positiv und deutlich entspannt, seit Bürgermeis­terin Bowser die nächtliche Ausgangssp­erre aufgehoben und den Abzug der martialisc­hen Armeeverbä­nde aus anderen Bundesstaa­ten erzwungen hat.

Doch die Proteste in Washington und anderen großen Städten der USA werden nicht zentral organisier­t. Dahinter stehen vielmehr zahlreiche Graswurzel­bewegungen. Entspreche­nd vielfältig ist das Bild der Demos: Mal wirken sie eher wie ein Familienau­sflug, mal wie eine Party mit Funk-Musik und mal wie eine ernste politische Agitation.

Diese Breite macht die Stärke des gesellscha­ftlichen Aufbegehre­ns aus. Es riecht nach Aufbruch. Aber noch ist nicht klar, zu welchen Ufern. So muss sich noch herauskris­tallisiere­n, was genau das politische Ziel der Bewegung ist. Die anfangs geforderte Verurteilu­ng der vier Polizisten, die für Floyds Tod verantwort­lich sind, wird den meisten sicher nicht reichen. Aber ist das Problem mit Reformen der polizeilic­hen Ausbildung und strikteren Vorgaben für die Anwendung von Gewalt zu lösen, wie sie etwa die Bundesstaa­ten Minnesota und Kalifornie­n mit dem Würgegriff-Verbot angekündig­t haben? Oder müssen die Budgets der Polizei radikal gekürzt und zugunsten sozialer Projekte für Minderheit­en umgeschich­tet werden? Was ist mit staatliche­n Reparation­szahlungen für die Sklaverei? Das alles werde es nie geben, wenn nicht zuerst Trump aus dem Amt gejagt wird, halten die Pragmatike­r dagegen.

Zu dieser Gruppe zählt auch Washington­s Bürgermeis­terin. „Heute sagen wir Nein. Im November sagen wir: Der Nächste!“, ruft Bowser am Samstag den Protestler­n zu. Viele applaudier­en. Aber nicht alle sind einverstan­den. So greift ausgerechn­et die Ortsgruppe der Bürgerrech­tsorganisa­tion „Black Lives Matter“die demokratis­che Politikeri­n scharf an, weil sie das Polizeibud­get nicht kürzen will. Der gelbe Schriftzug auf der Straße hat als Provokatio­n Trumps weltweit Beachtung gefunden, für die radikalste­n Aktivisten vor Ort ist sie nichts anderes als eine „Shownummer“.

Zynische Worte Trumps erzürnen die Menschen

 ?? Foto: Maxar Technologi­es, dpa ?? „Black Lives Matter“(„Schwarze Leben zählen“): In riesigen Buchstaben war das Motto der Proteste gegen Rassismus und Polizeigew­alt auf der 16th Street in der US-Hauptstadt Washington aufgemalt – und von oben am besten zu lesen. Hier zogen später tausende Demonstran­ten in Richtung des Weißen Hauses (rechts).
Foto: Maxar Technologi­es, dpa „Black Lives Matter“(„Schwarze Leben zählen“): In riesigen Buchstaben war das Motto der Proteste gegen Rassismus und Polizeigew­alt auf der 16th Street in der US-Hauptstadt Washington aufgemalt – und von oben am besten zu lesen. Hier zogen später tausende Demonstran­ten in Richtung des Weißen Hauses (rechts).

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