Gustave Flaubert: Frau Bovary (91)
Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshungrig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg
Ja, ja, er ist ein guter Mensch, wenn wir uns auch ordentlich einander in die Haare gefahren sind.“
Sie fragte, was das gewesen sei. Karl hatte ihr nämlich die Streitigkeit wegen der gelieferten Waren verschwiegen.
„Aber Sie wissen doch! Es handelte sich um Ihre Sachen zur Reise… Er hatte den Hut tief in die Stirn hereingezogen, die Hände auf den Rücken genommen und sah ihr, lächelnd und leise redend, mit einem unerträglichen Blick ins Gesicht. Vermutete er etwas? Emma verlor sich in allerlei Befürchtungen. Inzwischen fuhr er fort:
„Aber wir haben uns schließlich geeinigt, und ich bin gekommen, ihm ein Arrangement vorzuschlagen…“Es handelte sich darum, den Wechsel, den Bovary ausgestellt hatte, zu erneuern. Übrigens könne der Herr Doktor die Sache ganz nach seinem Belieben regeln; er brauche sich gar nicht zu ängstigen, noch dazu jetzt, wo er gewiß mit Sorgen überhäuft sei.
„Das beste wäre ja, wenn die Schuld jemand anders übernähme. Sie zum Beispiel. Durch eine Generalvollmacht. Das wäre das Bequemste. Wir könnten dann unsere kleinen Geschäfte miteinander abmachen.“
Sie begriff nicht recht, aber er sagte nichts weiter. Dann kam er auf sein Geschäft zu sprechen und erklärte ihr, sie müsse unbedingt etwas nehmen. Er wolle ihr zwölf Meter Barege schicken, zu einem neuen schwarzen Kleide.
„Das, was Sie da haben, ist gut fürs Haus. Sie brauchen noch noch ein andres für die Besuche. Gleich beim Eintreten habe ich das bemerkt. Ja, ja, ich habe Augen wie ein Amerikaner!“
Er schickte den Stoff nicht, sondern brachte ihn selbst. Dann kam er nochmals, um Maß zu nehmen, und dann unter allen möglichen anderen Vorwänden wieder und wieder, wobei er sich so gefällig und dienstbeflissen wie nur möglich stellte. Er stand „gehorsamst zur Verfügung“, wie Homais zu sagen pflegte. Dabei flüsterte er Emma immer wieder irgendwelche Ratschläge wegen der Generalvollmacht zu. Den Wechsel erwähnte er nicht mehr, und Emma dachte auch nicht daran. Karl hatte wohl kurz nach ihrer Genesung mit ihr darüber gesprochen, aber es war ihr seitdem so viel durch den Kopf gegangen, daß sie das vergessen hatte. Sie hütete sich überhaupt, Geldinteressen an den Tag zu legen. Frau Bovary wunderte sich darüber, aber sie schrieb das der Frömmigkeit zu, die zur Zeit der Krankheit in ihr erstanden sei. Sobald die alte Frau jedoch abgereist war, setzte Emma ihren Gatten durch ihren Geschäftssinn in Erstaunen. Man müsse Erkundigungen einholen, die Hypotheken prüfen und feststellen, ob nicht vielleicht ein Nachlaßkonkurs nötig sei. Sie gebrauchte auf gut Glück allerhand juristische Ausdrücke, sprach von Ordnung des Nachlasses, Nachlaßverbindlichkeiten, Haftung usw., und übertrieb immerfort die Schwierigkeiten der Erbschaftsregelung. Eines Tages zeigte sie ihm sogar den Entwurf einer Generalvollmacht, die ihr das Recht übertrug, das Vermögen zu verwalten, Darlehen aufzunehmen, Wechsel auszustellen und zu akzeptieren, jederlei Zahlung zu leisten und zu empfangen usw.
Lheureux war ihr Lehrmeister. Karl fragte sie naiv, wer ihr die Urkunde ausgestellt habe.
„Notar Guillaumin.“Und mit der größten Kaltblütigkeit fügte sie hinzu: „Ich habe nur nicht das rechte Vertrauen zur Sache. Die Notare stehn in so schlechtem Ruf! Vielleicht müßte man noch einen Rechtsanwalt um Rat fragen. Wir kennen aber nur… nein… keinen.“
„Höchstens Leo“, meinte Karl nachdenklich. Aber es sei schwierig, sich brieflich zu verständigen.
Da erbot sich Emma, die Reise zu machen. Er dankte. Sie bot es nochmals an. Keins wollte dem andern an Zuvorkommenheit nachstehen. Schließlich rief sie mit gut gespieltem Eigensinn aus:
„Ich will aber! Ich bitte dich, laß michs machen!“
„Wie gut du bist!“sagte er und küßte sie auf die Stirn.
Am andern Morgen stieg sie in die Post, um nach Rouen zu fahren und Leo zu konsultieren. Sie blieb drei Tage fort.
Drittes Kapitel
Es waren drei erlebnisvolle, köstliche, wunderbare wahre Flitterwochentage.
Die beiden wohnten im Boulogner Hof am Hafen. Dort hausten sie bei verschlossenen Türen und herabgelassenen Fensterläden, unter überallhin gestreuten Blumen und bei Fruchteis, das man ihnen alle Morgen in der Frühe brachte.
Abends mieteten sie einen überdeckten Kahn und aßen auf einer der Inseln. Es war die Stunde, da man von den Werften her die Hämmer gegen die Schiffswände schlagen hörte. Der Dampf von siedendem Teer stieg zwischen den Bäumen empor, und auf dem Strome sah man breite ölige, ungleich große Flecken, die im Purpurlichte der Sonne wie schwimmende Platten aus Florenzer Bronze glänzten.
Sie fuhren zwischen den vielen vor Anker liegenden Flußkähnen hindurch, und bisweilen streifte ihre Barke die langen Ankertaue. Das Geräusch der Stadt, das Rasseln der Wagen, das Stimmengewirr, das Bellen der Hunde auf den Schiffen wurde ferner und ferner. Emma knüpfte ihre Hutbänder auf.
Sie landeten an „ihrer Insel“. Sie setzten sich in eine Herberge, vor deren Tür schwarze Netze hingen, und aßen gebackene Fische, Omeletten und Kirschen. Dann lagerten sie sich ins Gras, küßten einander im Schatten der hohen Pappeln und hätten am liebsten wie zwei Robinsons immer auf diesem Erdenwinkel leben mögen, der ihnen in ihrer Glückseligkeit als das schönste Fleckchen der ganzen Welt erschien. Sie sahen die Bäume, den blauen Himmel und das Gras nicht zum ersten Male, sie lauschten nicht zum erstenmal dem Plätschern der Wellen und dem Wind, der durch die Blätter rauschte, aber es war ihnen, als hätten sie das alles niemals so genossen, als wäre die Natur vorher gar nicht dagewesen oder als wäre sie erst schön, seitdem ihr Begehren gestillt war.
Wenn es dunkel ward, kehrten sie heim. Der Kahn fuhr am Gestade von Inseln entlang. Die beiden saßen im Dunkeln auf der Bank unter dem hölzernen Verdeck und sprachen kein Wort. Die vierkantigen Ruder knirschten durch die Stille in ihren eisernen Gabeln, taktmäßig wie ein Uhrwerk. Hinter ihnen rauschte das Wasser leise um das herrenlose Steuer.
Einmal erschien der Mond. Da schwärmten sie natürlich vom stillen Nebelglanz über Busch und Tal und seinen Melodien. Und Emma begann sogar zu singen: „Weißt du, eines Abends Fuhren wir dahin…“
Ihre metallische, aber schwache Stimme verhallte über der Flut, vom Wind entführt. Wie sanfter Flügelschlag streifte der Sang Leos Ohr.
Emma saß an die Rückwand der kleinen Kabine gelehnt. Durch eine offene Luke im Dache fiel der Mondenschein herein und in ihr Gesicht.