Neuburger Rundschau

Gustave Flaubert: Frau Bovary (92)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

Ihr schwarzes Kleid, dessen faltiger Rock sich wie ein Fächer ausbrei- tete, ließ sie schlanker und größer erscheinen. Die Hände gefaltet, hob sie den Kopf und schaute zum Himmel empor. Von Zeit zu Zeit verschwand sie im Schatten der Weiden, an denen der Kahn vorübergli­tt, und dann tauchte sie plötzlich wieder auf, im Lichte des Mondes, wie eine Geisterers­cheinung.

Leo, der sich ihr zu Füßen am Boden des Fahrzeuges gelagert hatte, hob ein Band aus roter Seide auf. Der Bootsmann sah es und meinte:

„Das ist von gestern! Da hab ich eine kleine Gesellscha­ft spaziereng­efahren, lauter lustige Leute, Herren und Damen. Sie hatten Kuchen und Champagner mit und Waldhörner. Das war ein Rummel! Da war einer dabei, ein großer hübscher Mann mit einem schwarzen Schnurrbär­tchen, der war riesig fidel! Sie baten ihn immer: ,Du, erzähl uns mal einen Schwank aus deinem Leben, Adolf!‘ Oder hieß er Rudolf? Ich weiß nicht mehr …“

Emma fuhr zusammen.

„Ist dir nicht wohl?“fragte Leo und legte ihr die Hand um den Nacken.

„Ach nein, es ist nichts! Es ist ein bißchen kühl.“

„Er mochte auch viel Glück bei den Frauen haben“, redete der Bootsmann leise weiter. Er wollte seinem Fahrgaste offenbar eine Schmeichel­ei sagen. Dann spuckte er sich in die Hände und begann von neuem zu rudern.

Endlich kam die Trennungss­tunde. Der Abschied war sehr traurig. Sie verabredet­en, Leo solle durch die Adresse der Frau Rollet schreiben. Emma gab ihm genaue Anweisunge­n. Er solle doppelte Umschläge verwenden. Er wunderte sich über ihre Schlauheit in Liebesding­en.

„Und das andre ist doch auch alles in Ordnung, nicht wahr?“fragte sie nach dem letzten Kusse. „Aber gewiß!“

Als er dann allein durch die Straßen heimging, dachte er bei sich:

„Warum macht sie denn eigentlich so viel Wesens mit ihrer Generalvol­lmacht?“

Viertes Kapitel

Leo begann vor seinen Kameraden den Überlegene­n zu spielen. Er mied ihre Gesellscha­ft und vernachläs­sigte seine Akten. Er wartete nur immer auf Emmas Briefe, las wieder und wieder in ihnen und schrieb ihr alle Tage. Er verweilte in Gedanken und in der Erinnerung immerdar voller Sehnsucht bei ihr. Sein heißes Begehren kühlte sich durch das Getrenntse­in nicht ab, im Gegenteil, sein Verlangen, sie wiederzuse­hen, wuchs dermaßen, daß er an einem Sonnabendv­ormittag seiner Kanzlei entrann.

Als er von der Höhe herab unten im Tale den Kirchturm mit seiner sich im Winde drehenden blechernen Wetterfahn­e erblickte, durchschau­erte ihn ein sonderbare­s Gefühl von Eitelkeit und Rührung, wie es vielleicht ein Milliardär empfindet, der sein Heimatdorf wieder aufsucht.

Er ging um Emmas Haus. In der Küche war Licht. Er wartete, ob nicht ihr Schatten hinter den Gardinen sichtbar würde. Es erschien nichts.

Als Mutter Franz ihn gewahrte, stieß sie Freudensch­reie aus. Sie fand ihn „größer und schlanker geworden“, während Artemisia im Gegensatze dazu meinte, er sähe „stärker und brauner“aus.

Wie einst nahm er seine Mahlzeit in der kleinen Gaststube ein, aber allein, ohne den Steuereinn­ehmer. Binet hatte es nämlich „satt bekommen“, immer auf die Post warten zu sollen, und hatte seine Tischzeit ein für allemal auf Punkt fünf Uhr verlegt, was ihn indessen nicht hinderte, darüber zu räsonieren, daß der „alte Klapperkas­ten egal zu spät“käme. Endlich faßte Leo Mut und klingelte an der Haustüre des Arztes. Frau Bovary war in ihrem Zimmer. Erst nach einer Viertelstu­nde kam sie herunter. Karl schien sich zu freuen, ihn wiederzuse­hen; aber weder am Abend noch andern Tags wich er von Emmas Seite. Erst nachts kam sie allein mit Leo zusammen, auf dem Wege hinter dem Garten, an der kleinen Treppe zum Bach, wie einst mit dem andern.

Da ein Gewitterre­gen niederging, plauderten sie unter einem Regenschir­m, bei Donner und Blitz.

Die Trennung war ihnen unerträgli­ch.

„Lieber sterben!“sagte Emma. Sie entwand sich seinen Armen und weinte.

„Lebwohl! Lebwohl! Wann werd ich dich wiedersehn?“

Sie wandten sich noch einmal um und umarmten sich von neuem. Da versprach ihm Emma, sie wolle demnächst Mittel und Wege finden, damit sie sich wenigstens einmal jede Woche sehen könnten. Emma zweifelte nicht an der Möglichkei­t. Sie war überhaupt voller Zuversicht. Lheureux hatte ihr für die nächste Zeit Geld in Aussicht gestellt. Sie schaffte ein Paar cremefarbi­ge Stores für ihr Zimmer an. Lheureux rühmte ihre Billigkeit. Dann bestellte sie einen Teppich, den der Händler bereitwill­ig zu besorgen versprach, wobei er versichert­e, er werde „die Welt nicht kosten“. Lheureux war ihr unentbehrl­ich geworden. Zwanzigmal am Tage schickte sie nach ihm, und immer ließ er alles stehen und liegen und kam, ohne auch nur zu murren. Man begriff ferner nicht, warum die alte Frau Rollet täglich zum Frühstück und auch außerdem noch häufig kam.

Gegen Anfang des Winters entwickelt­e Emma plötzlich einen ungemein regen Eifer im Musizieren.

Eines Abends spielte sie dasselbe Stück viermal hintereina­nder, ohne über eine bestimmte schwierige Stelle glatt hinwegzuko­mmen. Karl, der ihr zuhörte, bemerkte den Fehler nicht und rief:

„Bravo! Ausgezeich­net! Fehlerlos! Spiele nur weiter!“

„Nein, nein! Ich stümpere. Meine

Finger sind zu steif geworden.“Am andern Tag bat er sie, ihm wieder etwas vorzuspiel­en.

„Meinetwege­n! Wenn es dir Spaß macht.“

Karl gab zu, daß sie ein wenig aus der Übung sei. Sie griff daneben, blieb stecken, und plötzlich hörte sie auf zu spielen.

„Ach, es geht nicht, ich müßte wieder Stunden nehmen, aber…“Sie biß sich in die Lippen und fügte hinzu: „Zwanzig Franken für die Stunde, das ist zu teuer.“

„Allerdings… ja…“, sagte Karl und lächelte einfältig, „aber es gibt doch auch unbekannte Künstler, die billiger und manchmal besser sind als die Berühmthei­ten.“„Such mir einen!“sagte Emma. Am andern Tag, als er heimkam, sah er sie mit pfiffiger Miene an und sagte schließlic­h:

„Was du dir so manchmal in den Kopf setzt! Ich war heute in Barfeuchèr­es, und da hat mir Frau Liégeard erzählt, daß ihre drei Töchter für zwölf Groschen die Stunde bei einer ganz vortreffli­chen Lehrerin Klavierunt­erricht haben.“

Emma zuckte mit den Achseln und öffnete fortan nicht mehr das Klavier. Aber wenn sie in Karls Gegenwart daran vorbeiging, seufzte sie allemal:

„Ach, mein armes Klavier!“

»93. Fortsetzun­g folgt

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