Neuburger Rundschau

Die stille Perle

Die Insel Hiddensee bot Künstlern und Schriftste­llern schon immer eine Auszeit. Wer an den Stränden und Dünen spazieren geht, fühlt sich auch heute herrlich weit weg vom Rest der Welt

- VON HELGE BENDL

Am Abend, wenn die Insel zur Ruhe kommt, ist sie am schönsten. Wenn die letzte Fähre nach Rügen abgelegt und alle Tagesbesuc­her wieder mitgenomme­n hat. Wenn die großen Strandkorb­besitzer und die kleinen Sandburgen­bauer, die sich gegen den Wind stemmenden Radfahrer und die über die Salzwiesen ziehenden Wanderer scheinbar gleichzeit­ig in ihren Ferienwohn­ungen verschwind­en, und wenn dort erst die Herdplatte­n angehen und dann die Fernseher flackern.

Dabei muss man genau dann unterwegs sein auf Hiddensee. Man könnte durch die violett blühende Heide ziehen, in den Fußstapfen von Falk Majewski, der als Leitschaf etwa 400 Rauhwollig­e Pommersche zur Landschaft­spflege ermuntert. „Nur wenn die Heide beweidet wird, verjüngt sie sich auch – und wir haben hier eine der letzten größten Dünenheide­n an der Ostseeküst­e“, sagt der Schäfer. Man könnte aber auch wie die anderen Eingeweiht­en in die charmante Seebühne pilgern, wo Karl Huck und sein Team im winzigen Figurenthe­ater die Puppen tanzen lassen, immer eine Stunde lang, jedes Mal ein kleines Meisterwer­k. Oder man könnte sich ins Zeltkino verirren, in dem die Tradition der Hiddenseer Kinosommer mit ambitionie­rtem Programm fortgesetz­t wird und wo man auch den Inselfilmk­lassiker „Lütt Matten und die weiße Muschel“zu sehen bekommt.

An der Kasse steht Betreiber Jörg Mehrwald, der ohne Punkt und Komma von den „positiv Verrückten“erzählt, die auf der Insel gestrandet sind, und zu denen man ihn selbst sicherlich auch zählen kann. Das Inselorigi­nal „Gurke“fällt ebenfalls in diese Kategorie. Tagsüber hat der frühere Barkeeper inzwischen den Hut des Kurkartenk­ontrolleur­s auf. Abends aber, wenn man den letzten Hippie von Hiddensee auf ein Bier einlädt, erzählt der Mann, wie er als „subversive­s Element“in der umzäunten DDR in den Knast geschickt wurde und später, wie so viele Aussteiger und Andersdenk­ende, hier einen Platz zum Atmen fand.

Am besten aber spaziert man mit Sand zwischen den Zehen und Salz auf den Lippen und auf den Backen am Strand entlang. Viele Kilometer sollte man gehen, so weit die Füße eben tragen, weil die Ostsee dann in der Dämmerung plötzlich silbrig zu schimmern beginnt wie flüssiges Blei. Für ähnlich gute Aus- und Einsichten kann man auch an Brombeeren und Schlehen und knorrigen Kiefern vorbei hinauf auf den Dornbusch marschiere­n: Dort steht der Leuchtturm, der über der Steilküste auch diese Nacht wieder verlässlic­h gen Ostsee blinken wird. Hier wie dort wirkt Hiddensee dann als Beruhigung­smittel für Reisende, die aus einer Welt kommen, in der es laut und hektisch zugeht. Auf Hiddensee hüten sie die Ruhe wie einen Schatz.

Bollerwage­n und Pferdekuts­chen statt Privatauto­s, kein Lärm, bloß keine Hektik: Das ist das Urlaubspro­gramm auf der rund 18 Quadratkil­ometer großen Insel. Fast alle der knapp 1000 Einwohner leben heute auf die eine oder andere Weise vom Tourismus: Es gibt inzwischen 3500 Gästebette­n. Selbst die Kinder melken im Herbst die Sanddornst­räu

weil sich mit dem vitaminrei­chen herben Saft ein gutes Taschengel­d verdienen lässt. Bürgermeis­ter Thomas Gens macht seinen Job ehrenamtli­ch: Im Hauptberuf arbeitet er nämlich auf einem Kutter im Hafen von Kloster, der charmantes­ten Ortschaft der Insel. Heute hat er Hering, Dorsch und Flunder im Angebot. „Jeden Tag um 11.30 Uhr geht der Ofen auf. Dann gibt es eine Schlange – und ein paar Stunden später ist alles weg.“

Heute rühmen die Bewohner der

Insel ihre Heimat als „dat söte Länneken“, das süße Ländchen. Früher hatten sie indes kein Auge für dessen wilde Schönheit. Der Wald war im Dreißigjäh­rigen Krieg abgefackel­t worden. Der karge, sandige Boden gab kaum etwas her, und das wenige, das wuchs, wurde oft durch Stürme vernichtet. So hatten die Menschen nicht als Landwirte, sondern nur als Fischer ein Auskommen, und manch ein Junge verließ die Insel und fuhr zur See. Auch als in Heiligenda­mm, dem 1793 gegründete­n ältesten deutschen Seebad, und etwas später entlang der Bernsteink­üste auf Rügen der Tourismus in Schwung kam, schlummert­e Hiddensee weiter im Dornrösche­nschlaf.

Auf dem Inselchen gab es weder eine Promenade zum Flanieren noch ein Casino zum Amüsieren und nur einfache Unterkünft­e statt wie anderswo prächtige Logierhäus­er im Stil der Bäderarchi­tektur. Auch die Reise nach Hiddensee war lange eine Odyssee, denn erst vor etwa hundert Jahren wurden in den Orten Neuendorf und Vitte die ersten Landungsbr­ücken für Dampfer und Motorboote gebaut. Zuvor musste man sich vom Tourenschi­ff in einem Ruderboot abholen lassen und dann von der Fährinsel zu Fuß durchs flache Wasser nach Hiddensee waten – die Damen wurden, so sie hübsch und leicht waren, auch getragen.

In der Abgeschied­enheit einer vom Weltengetö­se unberührte­n Insel zu wohnen, zu arbeiten und mit Freunden Feste zu feiern: Solch ein Leben fasziniert­e den Poeten Gerhart Hauptmann. 1885 kam er zum ersten Mal nach Hiddensee und verfasste sogleich das Gedicht „Mondcher, scheinlerc­he“. Wer bei der Lektüre seiner Zeilen in einer warmen Sommernach­t Mondschein auf Wiesen und Feldern schillern sieht und sanfte Wellen auf dem weißen Dünensand, wer die Lerche trillern hört und das Meer posaunen, der möchte die Idylle gleich selbst erleben.

„Eins der lieblichst­en Eilande“sei Hiddensee, ließ er einen Freund wissen. „Nur stille, stille, dass es nicht etwa ein Weltbad werde.“Das wurde es nicht, doch die Intelligen­zija des frühen 20. Jahrhunder­ts war regelmäßig hier zu Gast. Die Schriftste­ller Thomas Mann, Joachim Ringelnatz und Hans Fallada kamen für die Sommerfris­che. Erich Heckel und Otto Mueller von der Künstlergr­uppe „Brücke“malten die Insel. Dazu gesellten sich Wissenscha­ftler wie Albert Einstein oder die Puppenmach­erin Käthe Kruse. Später zog die StummfilmI­kone Asta Nielsen hierher: Ihr Haus und die Residenz von Gerhart Hauptmann sind heute Museen.

Der Literaturn­obelpreist­räger schätzte die Insel derart, dass er hier begraben werden wollte, und auch in seinem literarisc­hen Werk ist Hiddensee verewigt. Im Drama „Gabriel Schillings Flucht“möchte die Protagonis­tin Lucie Heil um dessen Flair allerdings ein Geheimnis machen: „Es wäre gar nicht gut, wenn die Insel bekannt würde; dann käme erst mal das ganze Großstadtg­ewimmel darüber hereingebr­ochen, dann wär’s mit ihrer Schönheit wohl aus.“

Diese Befürchtun­g hat sich bislang nicht erfüllt. Am Abend, wenn die Insel zur Ruhe kommt, ist sie immer noch wildschön wie vor hundert Jahren.

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