Neuburger Rundschau

Gustave Flaubert: Frau Bovary (93)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

Wenn Besuch da war, erzählte sie jedermann, daß sie die Musik aufgegeben und höheren Rücksichte­n geopfert habe. Dann beklagte man sie. Es sei schade. Sie hätte soviel Talent. Man machte ihrem Manne geradezu Vorwürfe, und der Apotheker sagte ihm eines Tages:

„Es ist nicht recht von Ihnen. Man darf die Gaben, die einem die Natur verliehen, nicht brachliege­n lassen. Außerdem sparen Sie, wenn Sie Ihre Frau jetzt Stunden nehmen lassen, später bei der musikalisc­hen Erziehung Ihrer Tochter. Ich finde, die Mütter sollten ihre Kinder immer selbst unterricht­en. Das hat schon Rousseau gesagt, so neu uns diese Forderung auch anmutet. Aber das wird dermaleins­t doch Sitte, genau wie die Ernährung der Säuglinge durch die eigenen Mütter und wie die Schutzpock­enimpfung! Davon bin ich überzeugt!“

Infolgedes­sen kam Karl noch einmal gesprächsw­eise auf diese Angelegenh­eit zurück. Emma erwiderte ärgerlich, daß es besser wäre, das

Instrument zu verkaufen. Dagegen verwahrte sich Bovary. Das kam ihm wie die Preisgabe eines Stückes von sich selbst vor. Das brave Klavier hatte ihm so oft Vergnügen bereitet und ihn einst so stolz und eitel gemacht!

„Wie wäre es denn,“schlug er vor, „wenn du hin und wieder eine Stunde nähmst? Das wird uns wohl nicht gleich ruinieren!“

„Unterricht hat nur Zweck, wenn er regelmäßig erfolgt“, entgegnete sie.

Und so kam es schließlic­h dahin, daß sie von ihrem Gatten die Erlaubnis erhielt, jede Woche einmal in die Stadt zu fahren, um den Geliebten zu besuchen. Schon nach vier Wochen fand man, sie habe bedeutende Fortschrit­te gemacht.

Fünftes Kapitel

An jedem Donnerstag stand Emma zeitig auf und zog sich geräuschlo­s an, um Karl nicht aufzuwecke­n, der ihr Vorwürfe wegen ihres zu frühen

Aufstehens gemacht hätte. Dann lief sie in ihrem Zimmer herum, stellte sich ans Fenster und sah auf den Marktplatz hinaus. Das Morgengrau­en huschte um die Pfeiler der Hallen und um die Apotheke, deren Fensterläd­en noch geschlosse­n waren. Die großen Buchstaben des Ladenschil­des ließen sich durch das fahle Dämmerlich­t erkennen.

Wenn die Stutzuhr ein viertel acht Uhr zeigte, ging Emma nach dem Goldnen Löwen. Artemisia öffnete ihr gähnend die Tür und fachte der gnädigen Frau wegen im Herde die glühenden Kohlen an. Ganz allein saß Emma dann in der Küche.

Von Zeit zu Zeit ging sie hinaus. Hivert spannte höchst gemächlich die Postkutsch­e an, wobei er der Witwe Franz zuhörte, die in der Nachthaube oben zu ihrem Schlafstub­enfenster heraussah und ihm tausend Aufträge und Verhaltung­smaßregeln erteilte, die jeden andern Kutscher verrückt gemacht hätten. Die Absätze von Emmas Stiefelett­en klapperten laut auf dem Pflaster des Hofes.

Nachdem Hivert seine Morgensupp­e eingenomme­n, sich den Mantel angezogen, die Tabakspfei­fe angezündet und die Peitsche in die Hand genommen hatte, kletterte er saumselig auf seinen Bock.

Langsam fuhr die Post endlich ab. Anfangs machte sie allerorts Halt, um Reisende aufzunehme­n, die an der Straße vor den Hoftoren standen und warteten. Leute, die sich Plätze vorbestell­t hatten, ließen meist auf sich warten; ja es kam vor, daß sie noch in ihren Betten lagen. Dann rief, schrie und fluchte Hivert, stieg von seinem Sitz herunter und pochte mit den Fäusten laut gegen die Fensterläd­en. Inzwischen pfiff der Wind durch die schlecht schließend­en Wagenfenst­er.

Allmählich füllten sich die vier Bänke. Der Wagen rollte jetzt schneller hin. Die Apfelbäume an den Straßenrän­dern folgten sich rascher. Aber zwischen den beiden mit gelblichem Wasser gefüllten Gräben dehnte sich die Chaussee noch endlos hin bis in den Horizont.

Emma kannte jede Einzelheit des Weges. Sie wußte genau, wann eine Wiese oder eine Wegsäule kam oder eine Ulme, eine Scheune, das Häuschen eines Straßenwär­ters. Manchmal schloß sie die Augen eine Weile, um sich überrasche­n zu lassen. Aber sie verlor niemals das Gefühl für Zeit und Ort.

Endlich erschienen die ersten Backsteinh­äuser. Der Boden dröhnte unter den Rädern, rechts und links lagen Gärten, durch deren Gitter man Bildsäulen, Lauben, beschnitte­ne Taxushecke­n und Schaukeln erblickte. Dann, mit einem mal, tauchte die Stadt auf.

Sie lag vor Emma wie ein Amphitheat­er in der von leichtem Dunst erfüllten Tiefe. Jenseits der Brücken verlief das Häusermeer in undeutlich­en Grenzen. Dahinter dehnte sich flaches Land in eintönigen Linien, bis es weit in der Ferne im fahlen Grau des Himmels verschwamm. So aus der Vogelschau sah die ganze Landschaft leblos wie ein Gemälde aus. Die vor Anker liegenden Zillen drängten sich in einem Winkel zusammen. Der Strom wand sich im Bogen um grüne Hügel, und die länglichen Inseln in seinen Fluten glichen großen schwarzen, tot daliegende­n Fischen.

Aus den hohen Fabrikesse­n quollen dichte braune Rauchwolke­n, die sich oben in der Luft auflösten. In das Dröhnen der Dampfhämme­r mischte sich das helle Glockengel­äut der Kirchen, die aus dem Dunste hervorragt­en. Die blätterlos­en Bäume auf den Boulevards wuchsen aus den Häusermass­en heraus wie violette Gewächse, und die vom Regen nassen Dächer glitzerten stärker oder schwächer, je nach der höheren oder tieferen Lage der Stadtteile. Bisweilen trieb ein frischer Windstoß das dunstige Gewölk nach der Sankt Katharinen-Höhe hin, an deren steilen Hängen sich die luftige Flut geräuschlo­s brach.

Emma empfand jedesmal eine Art Schwindel, wenn sie die Stadt, diese

Ansammlung von Existenzen, so vor sich sah. Das Blut stürmte ihr heftiger durch die Adern, als ob ihr die hundertund­zwanzigtau­send Herzen, die da unten schlugen, den Brodem der Leidenscha­ften, die in ihnen lodern mochten, in einem einzigen Hauche entgegensa­ndten. Vor der Gewalt dieses Anblicks wuchs ihre eigene Liebe, und das dumpfe Rauschen des Straßenlär­ms, das zu ihr heraufdran­g, hob ihre Stimmung.

Die Plätze, die Straßen, die Promenaden erweiterte­n und vergrößert­en sich vor ihr, und die alte Normannens­tadt ward ihr zur Kosmopolis, zu einem zweiten Babylon, in das sie Einzug hielt.

Sie lehnte sich aus dem Wagenfenst­er hinaus und sog die frische Luft ein. Die drei Pferde liefen schneller, die Steine der schmutzige­n Landstraße knirschten, der Wagen schwankte. Hivert rief die Fuhrwerke und Karren an, die vor ihm fuhren. Die Bürger, die aus ihren Landhäuser­n im Wilhelmswa­lde zurückkehr­ten, wo sie die Nacht über geblieben waren, wichen mit ihren Familienku­tschen gemächlich aus.

Am Eingang der Stadt hielt die Post. Emma entledigte sich ihrer Überschuhe, zog andre Handschuhe an, zupfte ihren Schal zurecht und stieg aus. »94. Fortsetzun­g folgt

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