Die Sittenwächter der Alpen
100 Jahre nach ihrer Gründung hat Bayerns Bergwacht so viel zu tun wie nie zuvor. In ihren Anfängen hätte sie eigentlich eine ganz andere Aufgabe wahrnehmen sollen
Immenstadt/München Fast 9000 Mal ist die Bergwacht Bayern im vergangenen Jahr ausgerückt, knapp 350 Mal häufiger als im Vorjahr. Heuer – im 100. Jahr ihres Bestehens – könnte es für die Bergwacht noch mehr Arbeit geben. Denn aller Voraussicht nach verbringen wegen der Corona-Krise noch mehr Menschen den Sommerurlaub in den Alpen: Mädelegabel statt Malle oder Tegelberg statt Thailand. „Wir rechnen mit vielen Einsätzen in diesem Sommer, sind dafür aber gut gerüstet“, sagt der Allgäuer Bergwacht-Chef Peter Eisenlauer.
Die Zahlen der Besucher in den Bergen nehmen seit Jahren zu. Zuletzt war vor der Corona-Krise der „Overtourism“beklagt worden. Dann kam die große Ruhe durch die Ausgangsbeschränkungen. Doch die dauerte nicht lange. Seit die CoronaRegeln wieder gelockert wurden, häuften sich die Meldungen über Besucherfluten und wild in der Landschaft parkende Tagesausflügler. In gewisser Weise erinnert diese Situation an die Zeit der Anfänge der bayerischen Bergwacht vor ziemlich genau 100 Jahren: Eine „Natur- und Sittenwacht“gründeten am 14. Juni 1920 im Münchner Hofbräuhaus Vertreter von Alpenvereinssektionen und Wandervereinen. Diese Bergwacht sollte laut Satzung „die Verletzung der guten Sitten und die Missachtung fremden Eigentums“sowie „jegliche Auswüchse sonstiger Art“bekämpfen. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg hatten Tourismus und Alpinismus stark zugenommen. Menschenmassen strömten auf der Suche nach Spaß, Erholung und Abwechslung in die Berge. Schon in den Zügen dorthin und erst recht auf den Hütten wurde gefeiert. Der Verein wolle nun zeigen, dass für „Naturschänder und vergnügungssüchtige oder politische Hitzköpfe in den Bergen kein Platz ist“, hieß es in der dritten Ausgabe der Zeitschrift „Bergkamerad“von 1924.
Im selben Jahr wurde es in einem „Patrouillenbericht“der Allgäuer
Bergwacht beklagt: „Das Einschreiben in den Hüttenbüchern scheint leider ganz in Fortfall gekommen zu sein. Auf der Otto-Mayr-Hütte sah ich die Einheimischen Jazz, Onestep, Twostep etc. tanzen. Will man heute einen Schuhplattler sehen, muß man anscheinend in die Stadt.“
Im Allgäu sahen es die Bergwachtler der ersten Generation vor allem als eine der wichtigsten Aufgaben an, die einzigartige Vegetation
zu schützen. Insbesondere das Plündern der Edelweiß-Vorkommen an der Höfats hatte ein besorgniserregendes Ausmaß angenommen. Zum Schutz der Pflanzen vor gewerbsmäßigen Pflückern errichtete die Bergwacht zunächst einen Zeltposten, später eine im Sommer ständig besetzte Biwakschachtel. Die ist heute nicht mehr besetzt. Die Edelweiß-Bestände haben sich in den vergangenen Jahren erholt, weil die Pflanzen nicht mehr gepflückt werden.
Ohnehin geriet der Schutz von Sitten und Natur bald in den Hintergrund, die Rettung verunglückter Bergsteiger wurde zur Hauptaufgabe. Waren die Retter in der Anfangszeit zu Fuß und mit Schlitten unterwegs, so erleichtert heute der Helikopter die Rettung; Drohnen unterstützen die Helfer bei der Einschätzung der Lage. Oft dauerte es früher viele Stunden, bis die Retter überhaupt alarmiert werden konnten – zuerst musste jemand es zu Fuß ins Tal schaffen, um Hilfe zu holen. Das Handy hat die Alarmierung revolutioniert, aber auch zu mehr Sorglosigkeit geführt. Mancher verlässt sich darauf, dass ein Anruf genügt, um aus einer schwierigen Situation geholt zu werden. So nimmt die Zahl der Einsätze zu, bei denen sich niemand verletzt hat, sondern Menschen nicht weiterkönnen, etwa weil sie sich überschätzt haben. Von 2015 bis 2019 hat sich die Zahl dieser von 226 auf 439 fast verdoppelt.
Zahl der Einsätze ohne Verletzte verdoppelt