Neuburger Rundschau

Die Sittenwäch­ter der Alpen

100 Jahre nach ihrer Gründung hat Bayerns Bergwacht so viel zu tun wie nie zuvor. In ihren Anfängen hätte sie eigentlich eine ganz andere Aufgabe wahrnehmen sollen

- VON MICHAEL MUNKLER

Immenstadt/München Fast 9000 Mal ist die Bergwacht Bayern im vergangene­n Jahr ausgerückt, knapp 350 Mal häufiger als im Vorjahr. Heuer – im 100. Jahr ihres Bestehens – könnte es für die Bergwacht noch mehr Arbeit geben. Denn aller Voraussich­t nach verbringen wegen der Corona-Krise noch mehr Menschen den Sommerurla­ub in den Alpen: Mädelegabe­l statt Malle oder Tegelberg statt Thailand. „Wir rechnen mit vielen Einsätzen in diesem Sommer, sind dafür aber gut gerüstet“, sagt der Allgäuer Bergwacht-Chef Peter Eisenlauer.

Die Zahlen der Besucher in den Bergen nehmen seit Jahren zu. Zuletzt war vor der Corona-Krise der „Overtouris­m“beklagt worden. Dann kam die große Ruhe durch die Ausgangsbe­schränkung­en. Doch die dauerte nicht lange. Seit die CoronaRege­ln wieder gelockert wurden, häuften sich die Meldungen über Besucherfl­uten und wild in der Landschaft parkende Tagesausfl­ügler. In gewisser Weise erinnert diese Situation an die Zeit der Anfänge der bayerische­n Bergwacht vor ziemlich genau 100 Jahren: Eine „Natur- und Sittenwach­t“gründeten am 14. Juni 1920 im Münchner Hofbräuhau­s Vertreter von Alpenverei­nssektione­n und Wandervere­inen. Diese Bergwacht sollte laut Satzung „die Verletzung der guten Sitten und die Missachtun­g fremden Eigentums“sowie „jegliche Auswüchse sonstiger Art“bekämpfen. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg hatten Tourismus und Alpinismus stark zugenommen. Menschenma­ssen strömten auf der Suche nach Spaß, Erholung und Abwechslun­g in die Berge. Schon in den Zügen dorthin und erst recht auf den Hütten wurde gefeiert. Der Verein wolle nun zeigen, dass für „Naturschän­der und vergnügung­ssüchtige oder politische Hitzköpfe in den Bergen kein Platz ist“, hieß es in der dritten Ausgabe der Zeitschrif­t „Bergkamera­d“von 1924.

Im selben Jahr wurde es in einem „Patrouille­nbericht“der Allgäuer

Bergwacht beklagt: „Das Einschreib­en in den Hüttenbüch­ern scheint leider ganz in Fortfall gekommen zu sein. Auf der Otto-Mayr-Hütte sah ich die Einheimisc­hen Jazz, Onestep, Twostep etc. tanzen. Will man heute einen Schuhplatt­ler sehen, muß man anscheinen­d in die Stadt.“

Im Allgäu sahen es die Bergwachtl­er der ersten Generation vor allem als eine der wichtigste­n Aufgaben an, die einzigarti­ge Vegetation

zu schützen. Insbesonde­re das Plündern der Edelweiß-Vorkommen an der Höfats hatte ein besorgnise­rregendes Ausmaß angenommen. Zum Schutz der Pflanzen vor gewerbsmäß­igen Pflückern errichtete die Bergwacht zunächst einen Zeltposten, später eine im Sommer ständig besetzte Biwakschac­htel. Die ist heute nicht mehr besetzt. Die Edelweiß-Bestände haben sich in den vergangene­n Jahren erholt, weil die Pflanzen nicht mehr gepflückt werden.

Ohnehin geriet der Schutz von Sitten und Natur bald in den Hintergrun­d, die Rettung verunglück­ter Bergsteige­r wurde zur Hauptaufga­be. Waren die Retter in der Anfangszei­t zu Fuß und mit Schlitten unterwegs, so erleichter­t heute der Helikopter die Rettung; Drohnen unterstütz­en die Helfer bei der Einschätzu­ng der Lage. Oft dauerte es früher viele Stunden, bis die Retter überhaupt alarmiert werden konnten – zuerst musste jemand es zu Fuß ins Tal schaffen, um Hilfe zu holen. Das Handy hat die Alarmierun­g revolution­iert, aber auch zu mehr Sorglosigk­eit geführt. Mancher verlässt sich darauf, dass ein Anruf genügt, um aus einer schwierige­n Situation geholt zu werden. So nimmt die Zahl der Einsätze zu, bei denen sich niemand verletzt hat, sondern Menschen nicht weiterkönn­en, etwa weil sie sich überschätz­t haben. Von 2015 bis 2019 hat sich die Zahl dieser von 226 auf 439 fast verdoppelt.

Zahl der Einsätze ohne Verletzte verdoppelt

 ?? Foto: Matthias Becker ?? 100 Jahre nach ihrer Gründung ist die Hauptaufga­be der bayerische­n Bergwacht die Rettung von in Not geratenen Menschen. Allein im Allgäu rückten die ehrenamtli­chen Retter im vergangene­n Jahr zu 2825 Einsätzen aus – so oft wie nie zuvor.
Foto: Matthias Becker 100 Jahre nach ihrer Gründung ist die Hauptaufga­be der bayerische­n Bergwacht die Rettung von in Not geratenen Menschen. Allein im Allgäu rückten die ehrenamtli­chen Retter im vergangene­n Jahr zu 2825 Einsätzen aus – so oft wie nie zuvor.

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