Neuburger Rundschau

Effenbergs Fingerzeig

Er war einer der besten deutschen Mittelfeld­spieler und machte doch nur 35 Länderspie­le. Die Hitze von Dallas, Pfiffe und eine Unbeherrsc­htheit ruinierten die Nationalma­nnschaftsk­arriere (Serie, Teil 26 und Ende)

- VON ANDRÉ FISCHER

Fein säuberlich fährt er demonstrat­iv den rechten Mittelfing­er aus. Die emotionale Mimik im Gesicht – verachtend. Das schwarz-weiße Foto des US-amerikanis­chen CountrySän­gers und Songschrei­bers Johnny Cash mit Gitarre geht Ende der 60er Jahre um die Welt. Der berühmte Fotograf Jim Marshall schießt den Schnappsch­uss mit dem legendären Stinkefing­er bei einer Konzertpro­be im kalifornis­chen San-QuentinSta­te-Gefängnis.

Wem diese obszöne Geste gilt, ist bis heute nicht zweifelsfr­ei geklärt. Fakt ist: Der Arbeitsanz­ug, den Cash bei seinem Auftritt vor den ungeduldig wartenden Häftlingen trägt, kommt 2010 für 50000 Dollar bei einer Auktion in Beverly Hills unter den Hammer. Ein Stück Musikhisto­rie.

Auch Stefan Effenberg hat mit Devotional­ien viel Geld für gute Zwecke gesammelt. Das Trikot mit der 20, das der Blondschop­f bei der Weltmeiste­rschaft in den USA 1994 auf der Brust trägt, kann dem Blaumann von Johnny Cash erlöstechn­isch indes nicht das Wasser reichen. Dabei schreibt „Effe“im Dress mit dem Nationaltr­ikot an jenem 27. Juni im Stadion „Cotton Bowl“in Dallas deutsche Fußballges­chichte. Nach zwei durchwachs­enen Auftritten in der Vorrunde trifft Deutschlan­d auf Südkorea, quält sich bei sengender Hitze zu einem 3:2 nach dem 3:0 zur Pause durch Tore von Jürgen Klinsmann (2) und Karl-Heinz Riedle.

Der Stressfakt­or ist hoch, weil die DFB-Elf im zweiten Abschnitt mehr und mehr die Kontrolle über das Spiel verliert, zwei Gegentreff­er schluckt, ins Schlingern gerät. Die aufgebrach­ten deutschen Fans stempeln Effenberg zum Sündenbock. Der leidet derweil bei fast 50 Grad wie ein Hund, wirkt lustlos, mitunter arrogant. Und ist voll mit Testostero­n, das sich nach den gnadenlose­n Pfiffen und „Effenbergr­aus“-Rufen“in einer unnötigen Verwarnung widerspieg­elt. Jetzt hat auch Bundestrai­ner Berti Vogts genug. Er holt seinen „Leader“nach 75 Minuten vom Feld. Das (vorerst) letzte Mal.

Auf dem Weg zur Bank lässt sich der spätere Weltpokals­ieger von 2001 frustriert über die eigene Leistung

zu einer Dummheit hinreißen, reckt höhnisch lächelnd dem ob der Auswechslu­ng erleichter­t wetternden eigenen Anhang den Finger der Empörung entgegen. Skandal! Interessan­t: Es gibt weder Videoaufna­hmen noch Fotos dieser Szene. Jenes

Bild, das Effenberg als Nationalsp­ieler mit dem Stinkefing­er zeigt und für diverse Rückblicke herhalten muss, wurde später geschossen.

„Ich schäme mich in tiefster Seele, dass ein herausrage­nder Vertreter des DFB in übelster Weise das verletzt hat, was wir aufgebaut haben“, sagt Verbandsbo­ss Egidius Braun später. Die Antwort von Vogts lässt nicht lange auf sich warten. Er wirft den gelernten Postangest­ellten aus dem Kader und verkündet gegenüber der Weltpresse: „Solange ich für die Nationalma­nnschaft verantwort­lich bin, wird Stefan Effenberg nicht mehr für Deutschlan­d spielen.“Vier Jahre später holt ihn „Bundes-Berti“aber doch zurück. Effenberg macht seine Länderspie­le 34 und 35 – und beendet seine Karriere als Nationalki­cker.

Im Nachklapp sagt er: „Vielleicht bin ich nur im falschen Land geboren. Ein amerikanis­cher Journalist hat mir mal gesagt: Junge, wenn du das bei uns gemacht hättest, wärst du jetzt ein Superstar.“So wie Johnny Cash.

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Foto: Getty Das Foto entstand erst später. Ebenjene Geste aber sorgte für den Rauswurf Stefan Effenbergs während der WM 1994.

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