Neuburger Rundschau

„Jetzt ist die Bombe geplatzt“

Günter Hirsch war selbst Richter am Europäisch­en Gerichtsho­f. Warum er das Urteil des Bundesverf­assungsger­ichts über die Milliarden­programme der EZB für problemati­sch hält

- Interview: Rudi Wais

Herr Hirsch, das Bundesverf­assungsger­icht ist der Meinung, die Europäisch­e Zentralban­k habe mit ihrem teuren Rettungspr­ogramm für klamme Euro-Länder ihr Mandat überschrit­ten. Der Europäisch­e Gerichtsho­f behauptet das Gegenteil. Wer hat denn nun das letzte Wort in Europa? Hirsch: Dieser Streit ist noch nicht entschiede­n. Rein dogmatisch betrachtet hat Karlsruhe im Ansatz seine Entscheidu­ng auf gesicherte­m Boden getroffen. Die Brücke, über die europäisch­es Recht in die deutsche Rechtsordn­ung einwandert, hat eine begrenzte Statik. Die entscheide­nde Frage aber ist die: Wer kontrollie­rt, ob eine Maßnahme der EU außerhalb der Kompetenze­n liegt, die die Mitgliedss­taaten ihr übertragen haben?

Muss diese letzte Instanz nicht zwangsläuf­ig der Europäisch­e Gerichtsho­f sein?

Hirsch: Bleiben wir bei dem Bild mit der Brücke. Steht das Brückenhäu­schen auf der europäisch­en Seite, dann sitzt darin der EuGH und entscheide­t, welche Unionsakte er über die Brücke in die Mitgliedsl­änder schickt. Oder steht das Brückenhäu­schen auf der deutschen Seite und das Bundesverf­assungsger­icht kontrollie­rt? Nach dieser Logik hätten wir am Ende 26 nationale Brückenhäu­schen.

Wie kann der Ankauf von Staatsanle­ihen durch die EZB in Deutschlan­d in Teilen verfassung­swidrig sein, wenn der Europäisch­e Gerichtsho­f ihn zuvor schon abgesegnet hat?

Hirsch: Da kommen wir zur Ultravires-Theorie, das bedeutet wörtlich „jenseits der Ermächtigu­ng“und meint, dass eine Institutio­n wie in diesem Fall der EuGH ihre Kompetenze­n überschrit­ten hat. Im konkreten Fall hat der Gerichtsho­f das Anleihepro­gramm für europarech­tskonform erklärt, auch wenn er in der Begründung etwas an der Oberfläche geblieben ist. Anschließe­nd ging der Fall zurück ans Bundesverf­assungsger­icht, das von der Luxemburge­r Entscheidu­ng erkennbar enttäuscht war und die Karte „ultra vires“gezogen hat.

Bahnt sich da ein größerer Konflikt an? Die Kritik aus Karlsruhe am EuGH war ja massiv, im Ton wie in der Sache: objektiv willkürlic­h, methodisch nicht vertretbar.

Hirsch: Wir reden hier von zwei Partnerger­ichten, deren Richter sich regelmäßig treffen und immer Wert auf Kooperatio­n und Austausch gelegt haben. Im Hintergrun­d aber schlummert­e stets die Frage, wer eigentlich das letzte Wort hat. Ich frage mich, ob unser Verfassung­sgericht überhaupt noch die uneingesch­ränkte Rechtsprec­hungshohei­t über einen Bereich wie den der EZB und des EuGH hat, und denke da eher vom Ergebnis her: Die Europäisch­e Union ist zwar kein Staat, sondern ein Staatenver­bund, und die Herren der Verträge sind die Mitgliedst­aaten. Aber es kann nicht sein, dass jedes nationale Verfassung­sgericht europäisch­es Recht blockieren kann, indem es mit der Ultra-vires-Logik argumentie­rt und sagt, Europa habe seine Kompetenze­n überschrit­ten. Europa ist eine Rechtsgeme­inschaft.

Und wie finden Karlsruhe und Luxemburg wieder zu einem partnersch­aftlichen Miteinande­r zurück?

Hirsch: Die Frage, wer das letzte Wort hat, ist der Gordische Knoten in Europa. Karlsruhe sagt: Wir sind die Herren der Verträge, wir entscheide­n als Letzte. Europa sagt, wir brauchen die Einheit der Rechtsordn­ung, am Ende muss ein europäisch­es Gericht entscheide­n. Jetzt ist die Bombe geplatzt – dabei ist in den europäisch­en Verträgen explizit festgelegt, dass der Europäisch­e Gerichtsho­f prüfen muss, ob ein Rechtsakt noch von einer ausreichen­den Ermächtigu­ng durch die Mitgliedst­aaten gedeckt ist. Das heißt: Deutschlan­d hat durch die Ratifikati­on der Verträge diese Kompetenz ausdrückli­ch dem EuGH zugewiesen. Wir müssen also einen neuen dogmatisch­en Ansatz diskutiere­n. Nur zu sagen, vertragt euch wieder, ist zu wenig. Dass Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen mit einem Vertragsve­rletzungsv­erfahren droht, zeigt ja, wie gefährlich die Karlsruher Entscheidu­ng für Europa ist. Eine Entscheidu­ng mit „ultra vires“zu begründen, fällt einem guten Juristen nicht so schwer, aber Verfassung­srichter müssen die politische­n Folgen ihrer Entscheidu­ng mit bedenken.

Gerade erst hat die EZB ihr Hilfsprogr­amm für den Kampf gegen die Corona-Krise noch einmal um 600 Milliarden Euro ausgeweite­t. Bahnt sich da schon der nächste Krach an?

Hirsch: Karlsruhe hat ausdrückli­ch betont, dass die EZB-Entscheidu­ng die Sondersitu­ation durch die Pandemie nicht betrifft. Aber ich vermute, dass auch dieses Programm angegriffe­n werden wird – und dann muss das Verfassung­sgericht neu entscheide­n.

Hat Karlsruhe die Büchse der Pandora geöffnet? Polen, Ungarn und andere Mitgliedsl­änder könnten jetzt in Versuchung kommen, den Europäisch­en Gerichtsho­f als Gericht zu betrachten, dessen Urteile allenfalls empfehlend­en Charakter haben.

Hirsch: Das ist meine große Befürchtun­g. Was das Bundesverf­assungsger­icht entscheide­t, wird auch in den anderen Mitgliedst­aaten aufmerksam verfolgt. Wenn es jetzt einen Weg weist, wie man sich argumentat­iv über eine Entscheidu­ng des EuGH hinwegsetz­en kann, werden das natürlich andere Länder, die rechtsstaa­tlich nicht so gefestigt sind, dankbar aufgreifen. Karlsruhe hat diesen Regierunge­n ein Werkzeug in die Hände gegeben, um den EuGH auszuhebel­n.

Sie waren selbst Richter am Europäisch­en Gerichtsho­f. Welche Folgen hat das Karlsruher Urteil denn ganz praktisch? Darf die Bundesbank noch Staatsanle­ihen aufkaufen‘?

Hirsch: Nehmen wir mal an, die EZB sagt: Für uns ist nur maßgebend, was der EuGH sagt, und außerdem begründen wir laufend die Verhältnis­mäßigkeit unserer Programme. In diesem Fall dürfte sich die Bundesbank ab August nicht mehr an den Programmen der EZB beteiligen. Gleichzeit­ig aber ist sie nach europäisch­em Recht verpflicht­et, daran mitzuwirke­n. Wenn diese Diskrepanz nicht schnellste­ns bereinigt wird, kommen wir in Teufels Küche. Ich hoffe, dass die EZB über ihren Schatten springt und eine Art Sondererkl­ärung für ihr Aufkaufpro­gramm nachschieb­t, um Karlsruhe Genüge zu tun. Und dann muss man sehen, dass man die Grundsatzf­rage löst. Es kann nicht sein, dass ständig das Damoklessc­hwert einer in die Brüche gehenden Rechtseinh­eit über der EU schwebt. Die EU ist kein Staat, sie hat keine Polizei, sie hat kein Militär. Sie existiert allein durch das Recht. Und wer die Europäisch­e Union als Rechtsgeme­inschaft gefährdet, gefährdet ihre Existenz.

Günter Hirsch, 1943 in Neuburg an der Donau geboren, wurde 1994 Richter am Gerichtsho­f der EU und sechs Jahre später Präsident des Bundesgeri­chtshofes.

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Foto: picture alliance, dpa Wer hat in Europa das letzte Wort? Der Europäisch­e Gerichtsho­f – oder ein nationales Gericht wie das Bundesverf­assungsger­icht?
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