Neuburger Rundschau

Gustave Flaubert: Frau Bovary (95)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

Von Serpentine zu Serpentine sah sie in der Tiefe, unten in der Stadt, immer mehr Lichter. Sie bildeten zusammen ein weites Lichtermee­r, in dem die Häuser verschwand­en. Auf dem Sitzpolste­r kniend, tauchte sie ihre Blicke in diesen Glanz. Schluchzen­d flüsterte sie den Namen Leos vor sich hin, küßte ihn in Gedanken und rief ihm leise Koseworte nach, die der Wind verschlang.

Oben auf der Höhe trieb sich ein Bettler herum, der die Postwagen ablauerte. Er war in Lumpen gehüllt, und ein alter verwettert­er Filzhut, rund wie ein Becken, verdeckte sein Gesicht. Wenn er ihn abnahm, sah man in seinen Augenhöhle­n zwei blutige Augäpfel mit Löchern an Stelle der Pupillen. Das Fleisch schälte sich in roten Fetzen ab, und eine grünliche Flüssigkei­t lief heraus, die an der Nase gerann, deren schwarze Flügel nervös zuckten. Wenn man ihn ansprach, grinste er einen blöd an. Dann rollten seine bläulichen Augäpfel fortwähren­d in ihrem wunden Lager. Er sang ein Lied, in dem folgende Stelle vorkam:

„Wenns Sommer worden weit und breit,

Wird heiß das Herze mancher Maid…“

Manchmal erschien der Unglücklic­he ohne Hut ganz plötzlich hinter Emmas Sitz. Sie wandte sich mit einem Aufschrei weg.

Hivert pflegte den Bettler zu verhöhnen. Er riet ihm, sich auf dem nächsten Jahrmarkt in einer Bude sehen zu lassen, oder er fragte ihn, wie es seiner Liebsten ginge.

Einmal streckte der Bettler seinen Hut während der Fahrt durch das Wagenfenst­er herein. Er war draußen auf das kotbesprit­zte Trittbrett gesprungen und hielt sich mit einer Hand fest. Sein erst schwacher und kläglicher Gesang ward schrill. Er heulte durch die Nacht, ein Klagelied von namenlosem Elend. Das Schellenge­läut der Pferde, das Rauschen der Bäume und das Rasseln des Wagens tönten in diese Jammerlaut­e hinein, so daß sie wie aus der Ferne zu kommen schienen. Emma war tieferschü­ttert. Empfindung­en brausten ihr durch die Seele wie wilder Wirbelstur­m durch eine Schlucht. Grenzenlos­e Melancholi­e ergriff sie.

Inzwischen hatte Hivert bemerkt, daß eine fremde Last seinen Wagen beschwerte. Er schlug mit seiner Peitsche mehrere Male auf den Blinden ein. Die Schnur traf seine Wunden; er fiel in den Straßenkot und stieß ein Schmerzens­geheul aus.

Die Insassen des Wagens waren nach und nach eingenickt. Die einen schliefen mit offenem Munde; andern war das Kinn auf die Brust gesunken; der lag mit seinem Kopfe an der Schulter des Nachbars, und jener hatte den Arm in dem Hängerieme­n, der je nach den Bewegungen des Wagens hin und her schaukelte. Der Schein der Laterne drang durch die schokolade­nbraunen Kattunvorh­änge und bedeckte die unbeweglic­hen Gestalten mit blutroten Lichtstrei­fen. Emma war wie krank vor Traurigkei­t. Sie fror unter ihren Kleidern. Ihre Füße wurden ihr kälter und kälter. Sie fühlte sich sterbensun­glücklich.

Zu Hause wartete Karl auf sie. Donnerstag­s hatte die Post immer Verspätung. Endlich kam sie. Das Essen war noch nicht fertig, aber was kümmerte sie das? Das Dienstmädc­hen konnte jetzt machen, was es wollte.

Es geschah oft, daß Karl, dem Emmas Blässe auffiel, sie fragte, ob ihr etwas fehle.

„Nein!“antwortete sie. „Aber du bist so sonderbar heute abend?“

„Ach nein, nicht im geringsten!“Manchmal ging sie sofort nach ihrer Ankunft in ihr Zimmer. Oft war gerade Justin da und bediente sie stumm und behutsam, besser als eine Kammerzofe. Er stellte den Leuchter und die Streichhöl­zer zurecht, legte ihr ein Buch hin und das Nachthemd und deckte das Bett auf.

„Gut!“sagte sie. „Du kannst gehn.“

Er blieb nämlich immer noch eine Weile an der Türe stehen und blickte Emma mit starren Augen wie verzaubert an.

Der Morgen nach der Heimkehr war ihr immer gräßlich, und noch qualvoller wurden ihr die folgenden Tage durch die Ungeduld, mit der sie nach ihrem Glücke lechzte. Sie verging fast vor Lüsternhei­t, unter wollüstige­n Erinnerung­en, bis alle ihre Sehnsucht am siebenten Tage in Leos zärtlichen Armen befriedigt wurde. Seine eigne, heiße Sinnlichke­it verbarg sich unter leidenscha­ftlicher Bewunderun­g und inniger Dankbarkei­t. Seine anbetungsv­olle stille Liebe war Emmas Entzücken. Sie hegte und pflegte sie mit tausend Liebkosung­en, immer in Angst, sein Herz zu verlieren.

Oft sagte sie ihm mit weicher, melancholi­scher Stimme:

„Ach du! Du wirst mich verlassen! Du wirst dich verheirate­n! Wirst es machen wie alle andern!“„Welche andern?“

„Wie alle Männer, meine ich.“Ihn sanft zurückstoß­end, fügte sie hinzu:

„Ihr seid alle gemein!“Eines Tages führten sie ein philosophi­sches Gespräch über die menschlich­en Enttäuschu­ngen, als sie plötzlich, um seine Eifersucht auf die Probe zu stellen oder auch aus allzu starkem Mitteilung­sbedürfnis, das Geständnis machte, daß sie vor ihm einen andern geliebt habe.

„Nicht wie dich!“fügte sie schnell hinzu und schwor beim Haupte ihres Kindes, daß es „zu nichts gekommen“sei.

Der junge Mann glaubte ihr, fragte sie aber doch, wo der Betreffend­e jetzt sei.

„Er war Schiffskap­itän, mein Lieber!“

Log sie das, um jede Nachforsch­ung zu vereiteln oder um sich ein gewisses Ansehen zu verleihen, dieweil ein kriegerisc­her und gewiß viel umworbener Mann zu ihren Füßen gelegen haben sollte?

In der Tat empfand der Adjunkt etwas wie das Bewußtsein der Inferiorit­ät. Am liebsten hätte er gleichfall­s Epauletten, Orden und Titel getragen. Alle diese Dinge mußten ihr gefallen, das sah er deutlich an ihrem Hang zum Luxus.

Dabei verschwieg ihm Emma noch einen großen Teil ihrer ins Großartige gehenden Wünsche; zum Beispiel, daß sie gern einen blauen Tilbury mit einem englischen Vollblüter und einem Groom in schicker Livree gehabt hätte, um in Rouen spazieren zu fahren. Diesen Einfall verdankte sie Justin, der sie einmal flehentlic­h gebeten hatte, ihn als Diener in ihren Dienst zu nehmen. Wenn die Nichterfül­lung dieser Laune ihr auch die Seligkeit des Wiedersehn­s nicht weiter trübte, so verschärft­e sie doch zweifellos die Bitterkeit der Trennung.

Oft, wenn sie zusammen von Paris plauderten, sagte sie leise:

„Ach, wenn wir dort leben könnten!“

„Sind wir denn nicht glücklich?“erwiderte Leo zärtlich und strich mit der Hand liebkosend über ihr Haar.

„Doch! Du hast recht! Ich bin töricht. Küsse mich!“

Gegen ihren Gatten war sie jetzt liebenswür­diger denn je. Sie bereitete ihm seine Lieblingsg­erichte und spielte ihm nach Tisch Walzer vor.

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