Über das Schweigen in der Politik
Das Schweigen, die Abwesenheit von Worten, kann in der Politik auf viele Weisen wirken. Schweigen kann der Kern einer Rede sein, wenn es Trauer oder Scham ausdrücken oder andere beschämen soll; wenn Worte überflüssig oder sinnlos geworden sind. Dann schweigen Meisterinnen (und Meister).
Schweigen kann zweitens Integrität bedeuten, doch doch, in Berlin gibt es mitunter Diskretion. Nicht alles, was totgeschwiegen wird, lebt, das wusste bereits Karl Kraus, und der wusste nur Kluges. Wenn aber Politikerinnen und Politiker nicht vor jeden Mikrofonstrauß treten, wenn sie auch nicht per SMS aus der vertraulichen Sitzung das geheime Wesentliche nach draußen senden, wenn folglich alle anderen (bis auf, leider, uns Journalisten) merken: „Huch, auf die kann ich mich ja verlassen.“
Meistens, drittens, verrät Schweigen in der Politik Unlust oder Unsicherheit, den Wunsch, dass ein erklärungsbedürftiges
Problem bitte vorüberziehen möge; dieses Schweigen ist das zu Rhetorik gewordene Kopfeinziehen. Die Kanzlerin war 14 Jahre lang auf diese dritte Art still. Clint Eastwood lehrt: „Wenn eine Frau nicht spricht, soll man sie auf keinen Fall unterbrechen.“
Dass aber nichts im Leben bleibt, wie es war, erkennen wir daran, dass dieselbe Kanzlerin nun mit einer individualistisch anmutenden Kombination aus Datentreue, Mitgefühl und Kommandolust daherredet, als habe sie’s immer schon heimlich gekonnt.
Die schlimmste, die vierte Sorte Schweigen ist reine Leere: Jene Stille, die wir vor lauter Gebrabbel nicht hören können. Der Präsident jammert, schimpft, droht, alles via Twitter, dann stellt er sich mit einer Bibel wortlos fürs Foto vor eine Kirche, dann schimpft er ins Mikrofon, doch er tröstet, überlegt, argumentiert nicht, und darum führt er auch nicht. So, nämlich „mit Bosheit gegenüber allen, mit Nächstenliebe gegenüber niemandem“, wie der konservative New York Times-Kolumnist Bret Stephens schreibt, kann kein Präsident im historischen Moment die benötigte große Rede halten. Das Getöse ist da, es schweigen leider die Gedanken.
Kurt Tucholsky riet 1930 dem schlechten Redner: „Du musst alles in Nebensätze legen. Sag nie: ,Die Steuern sind zu hoch‘. Das ist zu einfach. Sag: ‚Ich möchte zu dem, was ich soeben gesagt habe, noch kurz bemerken, dass mir die Steuern bei weitem ...‘ So heißt das.“Wenn man eine Rede schließlich vollendet vermurksen möchte: bloß keine Kunstpausen, bloß niemals schweigen. Tucholsky rät: „Kümmere dich nicht darum, ob die Wellen, die von dir ins Publikum laufen, auch zurückkommen – das sind Kinkerlitzchen. Sprich unbekümmert um die Wirkung, um die Leute, um die Luft im Saale; immer sprich, mein Guter.“
Oder aber, dies ist unser Tipp: Du sagst einfach, wie das Vorbild in Amerika, dass der ermordete George Floyd sich im Himmel bestimmt über die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt freue.
Für jene, die aber gar keine miserablen, sondern lieber gute Redner werden möchten, hat Kurt Tucholsky mit weniger Ironie noch einen zweiten Leitfaden verfasst, verdichtet und knapp. Wesentliches: „Hauptsätze, Hauptsätze, Hauptsätze. Klare Disposition im Kopf – möglichst wenig auf dem Papier. Tatsachen, oder Appell an das Gefühl … Suche keine Effekte zu erzielen, die nicht in deinem Wesen liegen. Ein Podium ist eine unbarmherzige Sache
– da steht der Mensch nackter als im Sonnenbad … Wat jestrichen ist, kann nicht durchfalln.“
Als nun Justin Trudeau, Kanadas Premierminister, nach dem Rassismus in den USA und nach deren Präsident gefragt wurde, sagte er nichts. Trudeau schwieg zwar nicht perfekt: Dreimal schmatzte er, einmal sagte er Äh; der Bart stand ihm auch nicht, und die Haare waren zu lang. Aber es waren 21 Sekunden Schweigen, es ist die Meisterrede dieses Sommers.
● Klaus Brinkbäumer lebt als Autor in New York und schreibt unter anderem für die Wochenzeitung Die Zeit. Von 2015 bis 2018 war der vielfach ausgezeichnete Journalist Chefredakteur des Spiegel. Ab sofort lesen Sie einmal im Monat an dieser Stelle seine Kolumne „Unterm STRICH“.