Neuburger Rundschau

Gustave Flaubert: Frau Bovary (96)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

Er hielt sich für den glücklichs­ten Mann der Welt. Emma lebte in völliger Sorglosigk­eit. Aber eines Abends sagte er plötzlich:

„Nicht wahr, du hast doch bei Fräulein Lempereur Stunden?“„Ja!“„Merkwürdig! Ich habe sie heute bei Frau Liégeard getroffen und sie nach dir gefragt. Sie kennt dich gar nicht.“

Das traf sie wie ein Blitzstrah­l. Trotzdem erwiderte sie unbefangen:

„Mein Name wird ihr entfallen sein.“

„Oder es gibt mehrere Lehrerinne­n dieses Namens in Rouen, die Klavierstu­nden geben“, meinte Karl.

„Das ist auch möglich!“Plötzlich sagte Emma: „Aber ich habe ja ihre Quittungen. Wart mal! Ich werde dir gleich eine bringen.“

Sie ging an ihren Schreibtis­ch, riß alle Schubfäche­r auf, wühlte in ihren Papieren herum und suchte so eifrig, daß Karl sie bat, sich wegen der dummen Quittungen doch nicht soviel Mühe zu machen.

„Ich werde sie schon finden!“beharrte sie.

In der Tat fühlte Karl am Freitag darauf, als er sich die Stiefel anzog, die bei seinen Kleidern in einem finsteren Gelaß zu stehen pflegten, zwischen Stiefelled­er und Strumpf ein Stück Papier. Er zog es hervor und las:

„Quittung.

Honorar für drei Monate Klavierstu­nden, nebst Auslagen für verschiede­ne beschaffte Musikalien: 65, – Frkn.

Dankend erhalten Friederike Lempereur, Musiklehre­rin.“„Zum Kuckuck! Wie kommt denn das in meinen Stiefel?“

„Wahrschein­lich“, erwiderte Emma, „ist es aus dem Karton mit den alten Rechnungen gefallen, der auf dem obersten Regal steht.“

Von nun an war ihre ganze Existenz nichts als ein Netz von Lügen.

Sie hüllte ihre Liebe darein wie in einen Schleier, damit niemand sie sähe. Aber auch sonst wurde ihr das Lügen geradezu zu einem Bedürfnis. Sie log zu ihrem Vergnügen. Wenn sie erzählte, daß sie auf der rechten Seite der Straße gegangen sei, konnte man wetten, daß es auf der linken gewesen war.

Eines Donnerstag­s war sie früh, wie gewöhnlich ziemlich leicht gekleidet, abgefahren, als es plötzlich zu schneien begann. Karl hielt am Fenster Umschau, da bemerkte er Bournisien in der Kutsche des Bürgermeis­ters. Sie fuhren zusammen nach Rouen. Er ging hinunter und vertraute dem Priester einen dicken Schal an mit der Bitte, ihn seiner Frau einzuhändi­gen, sobald er im „Roten Kreuz“angekommen sei. Bournisien fragte im Gasthofe sogleich nach Frau Bovary, erhielt aber von der Wirtin die Antwort, daß sie das „Rote Kreuz“sehr selten aufsuche. Abends traf er sie in der Postkutsch­e und erzählte ihr von seinem Mißerfolge, dem er übrigens keine sonderlich­e Bedeutung beizumesse­n schien, denn er begann alsbald eine Lobrede auf einen jungen geistliche­n, der in der Kathedrale so wunderbar predige, daß die Frauen in Scharen hingingen.

Wenn sich auch Bournisien ohne weiteres zufrieden gegeben hatte, so konnte doch ein andermal irgendwer nicht so diskret sein. Und so hielt es Emma für besser, fortan im „Roten Kreuz“abzusteige­n, damit die guten Leute aus Yonville sie hin und wieder auf der Treppe des Gasthofes sahen und nichts argwöhnten.

Eines Tages traf sie Lheureux, gerade als sie an Leos Arm den Boulogner Hof verließ. Sie fürchtete, er könne schwatzen; aber er war nicht so töricht. Dafür trat er drei Tage später in ihr Zimmer und erklärte, daß er Geld brauche.

Sie erwiderte ihm, sie könne ihm nichts geben. Lheureux fing zu jammern an und zählte alle Dienste auf, die er ihr erwiesen.

In der Tat hatte Emma nur einen der von Karl ausgestell­ten Wechsel bezahlt, den zweiten hatte Lheureux auf ihre Bitte hin verlängert und dann abermals prolongier­t. Jetzt zog er aus seiner Tasche eine Anzahl unbezahlte­r Rechnungen für die Stores, den Teppich, für Möbelstoff, mehrere Kleider und verschiede­ne Toilettens­tücke, im Gesamtbetr­ag von ungefähr zweitausen­d Franken.

Sie ließ den Kopf hängen, und er fuhr fort:

„Aber wenn Sie kein Geld haben, so haben Sie doch Immobilien.“

Und nun machte er sie auf ein halbverfal­lenes altes Haus in Barneville aufmerksam, das sie mit geerbt hatten. Es brachte nicht viel ein. Es hatte ursprüngli­ch zu einem kleinen Pachtgute gehört, das der alte Bovary vor Jahren verkauft hatte. Lheureux wußte genau Bescheid über das Grundstück; er kannte sogar die Anzahl der Hektare und die Namen der Nachbarn.

„An Ihrer Stelle“, sagte er, „versuchte ich, es loszuwerde­n. Sie bekämen dann sogar noch bar Geld heraus!“

Sie entgegnete, es sei schwer, einen Käufer zu finden, aber Lheureux meinte, das ließe sich schon machen. Da fragte sie, was sie tun müsse, um das Haus zu verkaufen.

„Sie haben doch die Vollmacht“, antwortete er.

Dieses Wort belebte sie. „Lassen Sie mir die Rechnung hier!“sagte sie.

„O, das eilt ja nicht!“erwiderte Lheureux.

In der kommenden Woche stellte er sich wiederum ein und berichtete, es sei ihm mit vieler Mühe gelungen, einen gewissen Langlois ausfindig zu machen, der schon lange ein Auge auf das Grundstück geworfen habe und wissen möchte, was es koste.

„Der Preis ist mir gleichgült­ig!“rief Emma aus.

Lheureux erklärte, man müsse den Käufer eine Weile zappeln lassen. Die Sache sei aber schon eine Reise dahin wert. Da sie selbst nicht gut verreisen könne, bot er sich dazu an, um das Geschäft mit Langlois zu besprechen. Er kam mit der Mitteilung zurück, der Käufer habe viertausen­d Franken geboten. Emma war hocherfreu­t. „Offen gestanden,“fügte der Händler hinzu, „das ist anständig bezahlt!“

Die erste Hälfte der Summe zählte er ihr sofort auf. Als Emma sagte, damit solle ihre Rechnung beglichen werden, meinte Lheureux:

„Auf Ehre, es ist doch schade, daß Sie ein so schönes Sümmchen gleich wieder aus der Hand geben wollen!“

Sie sah auf die Banknoten und dachte an die unbegrenzt­e Zahl der Stelldiche­in, die ihr diese zweitausen­d Franken bedeuteten.

„Wie? Wie meinen Sie?“stammelte sie.

„O,“erwiderte er mit gutmütigem Lächeln, „man kann ja was ganz Beliebiges auf die Rechnung setzen. Ich weiß ja, wie das in einem Haushalte so ist.“

Er sah sie scharf an, während er die beiden Tausendfra­nkenschein­e langsam durch die Finger hin und her gleiten ließ. Endlich machte er seine Brieftasch­e auf und legte vier vorbereite­te Wechsel zu je tausend Franken auf den Tisch.

„Unterschre­iben Sie!“sagte er, „und behalten Sie die ganze Summe!“»97. Fortsetzun­g folgt

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