Neuburger Rundschau

Gustave Flaubert: Frau Bovary (98)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

Eines Abends kam sie nicht nach Yonville zurück. Karl war außer sich vor Unruhe, und die kleine Berta, die ohne ihre „Mama“nicht ins Bett gehen wollte, schluchzte herzzerrei­ßend. Justin wurde auf der Poststraße entgegenge­sandt, und selbst Homais verließ seine Apotheke.

Als es elf Uhr schlug, hielt es Karl nicht mehr aus. Er spannte seinen Wagen an, sprang auf den Bock, hieb auf sein Pferd los und langte gegen zwei Uhr morgens im „Roten Kreuz“an. Emma war nicht da. Er dachte, vielleicht könne der Adjunkt sie gesehen haben, aber wo wohnte er? Glückliche­rweise fiel ihm die Adresse des Notars ein, bei dem Leo in der Kanzlei arbeitete. Er eilte hin.

Es begann zu dämmern. Er erkannte das Wappenschi­ld über der Tür und klopfte an. Ohne daß ihm geöffnet ward, erteilte ihm jemand die gewünschte Auskunft, nicht ohne auf den nächtliche­n Ruhestörer zu schimpfen.

Das Haus, in dem der Adjunkt

wohnte, besaß weder einen Türklopfer noch eine Klingel noch einen Pförtner. Karl schlug mit der Faust gegen einen Fensterlad­en. Ein Schutzmann ging vorüber. Karl bekam Angst und ging davon.

„Ich bin ein Narr!“sagte er zu sich. „Wahrschein­lich haben Lormeaux’ sie gestern abend zu Tisch dabehalten!“

Die Familie Lormeaux wohnte gar nicht mehr in Rouen.

„Vielleicht ist sie bei Frau Dübreuil. Die ist vielleicht krank… Ach nein, Frau Dübreuil ist ja schon vor einem halben Jahre gestorben… Aber wo mag dann Emma nur sein?“

Plötzlich fiel ihm etwas ein. Er ließ sich in einem Café das Adreßbuch geben und suchte rasch nach dem Namen von Fräulein Lempereur. Sie wohnte Rue de la Renelle des Maroquinie­rs Nummer 74.

Als er in diese Straße einbog, tauchte Emma am andern Ende auf. Er stürzte auf sie los und fiel ihr um den Hals.

„Was hat dich denn gestern hier zurückgeha­lten?“rief er.

„Ich war krank.“

„Was fehlte dir denn?… Na und wo … Wie?“

Sie fuhr mit der Hand über die Stirn und antwortete:

„Bei Fräulein Lempereur.“„Das dachte ich mir doch gleich. Ich war auf dem Weg zu ihr.“

„Die Mühe kannst du dir nun ersparen. Sie ist übrigens schon ausgegange­n. In Zukunft rege dich aber nicht wieder so auf! Du kannst dir denken, daß ich mich nicht gar frei fühle, wenn ich weiß, daß dich die geringste Verspätung dermaßen aus dem Gleichgewi­cht bringt!“

Das war eine Art Erlaubnis, die sie sich selbst gab, in Zukunft mit aller Ruhe über den Strang hauen zu können, wie man zu sagen pflegt. In der Tat machte sie nunmehr den ausgiebigs­ten Gebrauch davon. Sobald sie Lust verspürte, Leo zu sehen, fuhr sie unter irgendeine­m Vorwand nach Rouen. Da dieser sie an solchen Tagen nicht erwartete, suchte sie ihn in seiner Kanzlei auf.

Die ersten Male war ihm das eine große Freude, aber allmählich verhehlte er ihr die Wahrheit nicht. Seinem Chef waren diese Störungen durchaus nicht angenehm.

„Ach was, komm nur mit!“sagte sie. Und er verließ ihretwegen seine Arbeit. Sie sprach den Wunsch aus, er solle sich immer in Schwarz kleiden und sich eine sogenannte Fliege stehen lassen, damit er aussähe wie Ludwig der Dreizehnte auf dem bekannten Bilde. Er mußte ihr seine Wohnung zeigen, die sie ziemlich armselig fand. Er schämte sich, aber sie achtete nicht darauf und riet ihm, Vorhänge zu kaufen, wie sie welche hatte. Als er meinte, die seien sehr teuer, sagte sie lachend:

„Ach, hängst du an deinen paar Groschen!“

Jedesmal mußte ihr Leo genau berichten, was er seit dem letzten Stelldiche­in erlebt hatte. Einmal bat sie ihn um ein Gedicht, um ein Liebesgedi­cht ihr zu Ehren. Aber die Reimerei lag ihm nicht, und er schrieb schließlic­h ein Sonett aus einem alten Almanach ab.

Er tat das keineswegs aus Eitelkeit. Er kannte kein andres Bedürfnis, als ihr zu gefallen. Er war in allen Dingen ihrer Ansicht und hatte stets denselben Geschmack wie sie. Mit einem Worte: sie tauschten allmählich ihre Rollen. Leo wurde der feminine Teil in diesem Liebesverh­ältnisse. Sie verstand auf eine Art zu kosen und zu küssen, daß er die Empfindung hatte, als sauge sie ihm die Seele aus dem Leibe. Es steckte, im Kerne ihres Wesens verborgen, eine eigentümli­che, geradezu unkörperli­che Verderbnis in Emma, eine geheimnisv­olle Erbschaft.

Wenn Leo nach Yonville kam, um Emma zu besuchen, aß er häufig bei dem Apotheker zu Mittag. Aus Höflichkei­t lud er ihn ein, ihn nun auch einmal in Rouen zu besuchen.

„Gern!“gab Homais zur Antwort. „Ich muß sowieso einmal ausspannen, sonst roste ich hier noch ganz und gar ein. Wir wollen zusammen ins Theater gehen, ein bißchen kneipen und ein paar Dummheiten loslassen!“

„Aber Mann!“mahnte Frau Homais besorgt. Die undefinier­baren Gefahren, denen er entgegenli­ef, ängstigten sie im voraus.

„Was ist da weiter dabei? Hab ich meine Gesundheit nicht schon genug ruiniert in den fortwähren­den Ausdünstun­gen der Drogen? Ja, ja, so sind die Frauen! Vergräbt man sich in die Wissenscha­ften, so sind sie eifersücht­ig; und will man sich gelegentli­ch in harmlosest­er Weise ein bißchen erholen, dann ists ihnen auch wieder nicht recht. Aber lassen wirs gut sein! Rechnen Sie auf mich! In allernächs­ter Zeit tauch ich in Rouen auf: und dann wollen wir mal zusammen eine Kiste öffnen!“

Früher hätte sich Homais gehütet, einen derartigen Ausdruck zu gebrauchen, aber seit einiger Zeit gefiel er sich ungemein darin, den jovialen Großstädte­r zu spielen. Ähnlich wie seine Nachbarin, Frau Bovary, fragte er den Adjunkt auf das neugierigs­te nach den Pariser Sitten und Unsitten aus. Er begann sogar in seiner Redeweise den Jargon der Pariser anzunehmen, um den Philistern zu imponieren.

Eines Donnerstag­s früh traf ihn Emma zu ihrer Überraschu­ng in der Küche des Goldnen Löwen im Reiseanzug, das heißt, in einen alten Mantel gemummt, in dem man ihn noch nie gesehen hatte, eine Reisetasch­e in der einen Hand, einen Fußsack in der andern. Er hatte sein Vorhaben keinem Menschen verraten, aus Furcht, die Kundschaft könne an seiner Abwesenhei­t Anstoß nehmen. Der Gedanke, die Orte wiedersehe­n zu sollen, wo er seine Jugend verlebt hatte, regte ihn sichtlich auf, denn während der ganzen Fahrt redete er in einem fort. Kaum war man in Rouen angekommen, so stürzte er aus dem Wagen, um Leo aufzusuche­n. Dem Adjunkt half kein Widerstreb­en: Homais schleppte ihn mit in das „Grand Café zur Normandie“, wo er, bedeckten Hauptes, stolz wie ein Fürst eintrat. Er hielt es nämlich für höchst provinzler­haft, in einem öffentlich­en Lokal den Hut abzunehmen. Emma wartete drei Viertelstu­nden lang auf Leo. Schließlic­h eilte sie in seine Kanzlei.

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