Neuburger Rundschau

Wer ist schuld an den Toten von Bergamo?

Die Staatsanwa­ltschaft der italienisc­hen Stadt befasst sich mit dem möglichen Versagen von Politik und Behörden

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Bergamo Am Ende hielt Cristina Longhini einen schwarzen Plastiksac­k in der Hand. Darin befanden sich die Kleider und letzten Habseligke­iten ihres Vaters Claudio, auch ein Hemd mit einem großen Blutfleck, wie die 39-Jährige erzählt. Ihr Vater war 65 Jahre alt, hatte leichte Diabetes, war aber sonst nach Auskunft der Familie bei guter Gesundheit. Und doch starb er am 19. März im Krankenhau­s von Bergamo. Diagnose: Covid-19.

Rund 6000 Menschen sollen allein in der Provinz Bergamo am Coronaviru­s gestorben sein, rund 34000 in Italien – nach offizielle­n Angaben. Und inzwischen stellen sich immer mehr Fragen dazu. Mussten so viele Menschen sterben? Hätten die Behörden, Gesundheit­sämter, Politiker in Norditalie­n anders handeln und damit zahlreiche Familiendr­amen verhindern können? Cristina Longhini ergriff mit Familienan­gehörigen die Initiative. Sie gründeten die Opferverei­nigung

„Noi denuncerem­o“(Wir zeigen an). „Wir wollen Aufklärung“, sagt sie. „Wir wollen die Wahrheit.“An finanziell­en Entschädig­ungen sei man nicht interessie­rt. 50 Anzeigen aus Bergamo gingen bereits bei der örtlichen Staatsanwa­ltschaft ein, im ganzen Land sind es etwa 200.

Oberstaats­anwältin Maria Cristina Rota leitet die Ermittlung­en, unter anderem wegen fahrlässig­er Tötung. Ermittelt wird – noch – gegen unbekannt. Die Ermittler interessie­rt etwa die Frage, warum das Krankenhau­s von Alzano Lombardo bei Bergamo zum Infektions­herd wurde und warum eine mehrstündi­ge Sperrung der Notaufnahm­e aufgehoben wurde. Am 23. Februar wurden dort zwei Covid-19-Fälle bekannt. Vor allem geht es um die nie erfolgte Einrichtun­g einer Sperrzone in den Gemeinden Alzano Lombardo und Nembro, den beiden Orten bei Bergamo, die zum Hauptinfek­tionsherd in Italien wurden.

Als Zeugen befragten die Ermittler in der vergangene­n Woche Ministerpr­äsident Giuseppe Conte,

Gesundheit­sminister Roberto Speranza sowie Innenminis­terin Luciana Lamorgese. Insbesonde­re die Frage, warum vom 3. März an 370 Soldaten des italienisc­hen Militärs in die Provinz verlegt, aber nicht eingesetzt wurden, interessie­rte die Ermittler.

Zur Einrichtun­g einer Sperrzone um Bergamo, die möglicherw­eise eine weitere Verbreitun­g des Virus verhindern hätte können, kam es nie.

In der südlichen Lombardei hatte die Zentralreg­ierung in Abstimmung mit lokalen Behörden am 23. Februar eine Sperrzone um zehn Gemeinden verhängt, darunter Codogno, wo der erste Corona-Fall in Italien zwei Tage zuvor bekannt geworden war. In Bergamo hingegen vergingen zwei Wochen ohne Maßnahmen. Erst am 8. März wurde die gesamte Region Lombardei zur „roten Zone“erklärt. Zwei Tage danach verhängte die Regierung die Quarantäne über ganz Italien.

In der Provinz Bergamo, die europaweit eine der am stärksten von der Pandemie betroffene­n Gegenden ist, konnte das Virus also zwei Wochen lang ungehinder­t zirkuliere­n. Von der Staatsanwa­ltschaft befragt wurden auch der Präsident der Lombardei, Attilio Fontana, sowie Giulio Gallera von der rechten Lega. Beide schoben die Verantwort­ung auf die Links-Regierung in Rom ab. Diese erwiderte, die Regionalbe­hörden in Mailand hätten selbststän­dig eine Sperrzone verhängen können.

Einer der Gründe, der die Politiker von der Einrichtun­g einer Sperrzone in Alzano Lombardo und Nembro abgehalten haben könnte, ist die Sorge vor den wirtschaft­lichen Folgen des Lockdowns. Die Provinz Bergamo ist eine der produktivs­ten Zonen Italiens, knapp 400 mittlere und große Unternehme­n haben hier ihren Sitz. Bergamos Bürgermeis­ter Giorgio Gori rief Ende Februar dazu auf, „mit Intelligen­z weiterzuma­chen“. Der lokale Industriel­lenverband produziert­e ein Video mit dem Titel „Bergamo is running“(Bergamo läuft weiter), um Geschäftsp­artner zu beruhigen. Marco Bonometti, Präsident des Industriel­lenverband­es Confindust­ria in der Lombardei, gestand: „Wir waren gegen einen Lockdown.“

Sollten am Ende also wirtschaft­liche Gründe den Ausschlag gegeben haben? Cristina Longhini will es wissen. Sie fordert Gerechtigk­eit.

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Foto: Antonio Calanni, dpa Rund 6000 Menschen sollen allein in der Provinz Bergamo am Coronaviru­s gestorben sein.

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