Neuburger Rundschau

Für sie ist ein Lächeln wie eine Fremdsprac­he

Im Unternehme­n Auticon lösen Autisten sehr erfolgreic­h die IT-Probleme großer Firmen

- VON DANIEL WEBER

München Auticon hat seit der Gründung 2011 in Berlin einen rasanten Aufstieg hingelegt: Das IT-Unternehme­n ist inzwischen mit 20 Standorten auf drei Kontinente­n vertreten. Sein Erfolg liegt in einem außergewöh­nlichen Konzept: Hocheffizi­ente IT-Spezialist­en, sogenannte Consultant­s, arbeiten an Projekten großer Firmen wie Airbus, Allianz oder auch beim LKA, meist direkt in den Räumen des Auftraggeb­ers. Diese Spezialist­en haben alle eines gemeinsam: Sie sind Autisten. Einer von ihnen ist Benjamin Heiland, der am Münchner Standort angestellt ist.

Der 30-Jährige kann neben mehreren Schulwechs­eln auch ein abgebroche­nes Chemiestud­ium, eine erfolgreic­he Ausbildung zum Koch und ein abgebroche­nes Informatik­Studium vorweisen. Außerdem hatte er mit Mobbing, Konzentrat­ionsstörun­gen und Depression­en zu kämpfen. „Mein Lebenslauf ist ein bisschen wild“, fasst er zusammen.

Warum das so kam, darüber hat 2019 die Diagnose eines Arztes

Klarheit gebracht: Heiland ist Autist. „Ich hatte schon den Verdacht, als ich eine Dokumentat­ion über einen Autisten gesehen habe, der nicht in Sprache, sondern in Bildern denkt. Bei mir ist das auch so.“Heiland tue sich manchmal schwer, Dinge in Worte zu fassen, weil er sie erst übersetzen müsse. Zwischenme­nschliche Signale wie ein Lächeln oder einen bestimmten Tonfall, die normalerwe­ise unterbewus­st ausgesende­t und wahrgenomm­en werden, müsse er erst bewusst entschlüss­eln oder ganz gezielt von sich geben.

Bald nach der Autismus-Diagnose

hat sich Heiland bei Auticon beworben, wo er seit Anfang des Jahres arbeitet. „Ich habe keine Zettelqual­ifikatione­n wie ein abgeschlos­senes Studium, aber Auticon hat auf meine Fähigkeite­n Wert gelegt“, sagt er.

Das macht das Unternehme­n nicht allein aus sozialen Gründen. Dieter Hahn, Leiter des Münchner Standorts, erklärt, warum Autisten mit dem nötigen Fachwissen im ITBereich besonders produktiv sein können: Weil sie sehr systematis­ch denken, fallen ihnen Muster und Systemfehl­er viel leichter auf als anderen Menschen – in der rein logisch aufgebaute­n Programmie­rwelt ein Vorteil von unschätzba­rem Wert. „Wir haben viele langjährig­e Kunden, die ihre Aufträge verlängern und neue erteilen“, sagt Hahn. Mancher Auftraggeb­er sei anfangs verblüfft, wie schnell der Consultant arbeite, und habe Mühe, ihm genügend Arbeit zu geben.

Damit die Autisten in Ruhe arbeiten können, müssen allerdings Umgebung und Kommunikat­ion stimmen. Dafür gibt es bei Auticon eigene Ansprechpa­rtner. Diese sogenannte­n Job-Coaches klären Kunden über die Bedürfniss­e der Consultant­s auf – zum Beispiel ist die Reizüberfl­utung in Großraumbü­ros für viele von ihnen problemati­sch, sie bevorzugen stille, schmucklos­e Räume und aufgeräumt­e Schreibtis­che. Die Coaches stehen auch bereit, um Missverstä­ndnisse auszuräume­n. Die können sich ergeben, weil Autisten oft nur an den Informatio­nsgehalt von Worten denken und nicht bemerken, dass das Gesagte jemandem vor den Kopf stoßen könnte. Sie sind in der Regel geradehera­us und ehrlich, wollen niemanden ärgern oder beeindruck­en. So informiert Heiland ohne Umschweife: „Ich finde die CoronaEins­chränkunge­n nicht belastend. Ich habe sowieso nicht viele soziale Kontakte und gehe nicht viel raus.“Heiland stört, dass Autisten oft vorgeworfe­n wird, sie seien empathielo­s: Dass er Gefühle von anderen nur schwer erkenne, heiße nicht, dass sie ihm egal sind.

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Benjamin Heiland

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