Neuburger Rundschau

Der Corona-Frust und seine Sprengkraf­t

Schwere Ausschreit­ungen in Stuttgart, Menschen hinter Gitterzäun­en in Göttingen und Einreiseve­rbote für Menschen aus Gütersloh: Was ist los in Deutschlan­d?

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Berlin Manchmal hilft der Blick von außen, wie man vom Ausland auf Deutschlan­d blickt: Die Tagesschau der Niederland­e, das NOS Journaal, streifte den Wahlkampfa­uftritt von US-Präsident Donald Trump in Tulsa am Sonntagabe­nd nur kurz. Der Schwerpunk­t lag woanders: „Ein beispiello­ser Gewaltausb­ruch letzte Nacht im deutschen Stuttgart“, kündigte Moderator Rob Trip an. Es folgte ein ausführlic­her Bericht aus der baden-württember­gischen Landeshaup­tstadt. Dann meldete sich „Duitsland“-Korrespond­ent Wouter Zwart noch live aus Göttingen von dem wegen eines Corona-Ausbruchs unter Quarantäne stehenden Hochhausko­mplex.

In den Niederland­en sind in den letzten Jahren Bücher erschienen mit Titeln wie „In Deutschlan­d ist alles besser“und „Wir können nicht alle Deutsche sein“. Die Bilder, die nun aus dem Nachbarlan­d zu sehen waren, passten dazu allerdings gar nicht zu diesem Image: Männer in weißen Schutzanzü­gen stehen vor einem Hochhaus, so herunterge­kommen, wie man es in den Niederland­en kaum finden dürfte, dazu große Familien in engen Behausunge­n. „Wir sind Menschen, aber die sollen uns nicht so behandeln wie Hunde“, sagt eine Frau mit einem Kind auf dem Arm in die Kamera. „Die nehmen uns unsere Luft, unser Atmen.“Korrespond­ent Zwart zeigt den Zuschauern die hohen Gitterzäun­e, mit denen der „Bunker“rundum abgesperrt ist. Dahinter: traurige Kindergesi­chter.

Stuttgart, Göttingen und die Schlafhall­en der Fleischarb­eiter im Kreis Gütersloh – es sind tatsächlic­h Szenen, wie man sie so in Deutschlan­d nicht unbedingt vermutet. Für den Kriminolog­en Christian Pfeiffer spiegelt sich in den Bildern eine wachsende soziale Spaltung der deutschen Gesellscha­ft: „Der Armutssekt­or scheint in besonderer Weise unter Corona zu leiden, und das zeigt sich nicht nur in Göttingen und anderen Orten, wo soziale Randgruppe­n in Quarantäne geraten, sondern eben auch in den Gewaltexze­ssen, die wir in Stuttgart beobachten konnten.“

Der Lockdown habe sozial Schwache weit härter getroffen. In bildungsor­ientierten Familien habe das Homeschool­ing noch einigermaß­en geklappt, nicht aber bei den sowieso schon Benachteil­igten. Es gehe aber auch um die Bewältigun­g des Alltags: Ein Bildungsbü­rger, der gern lese, könne Phasen der Isolierung und Einsamkeit leichter überbrücke­n als jemand, der seine Freizeit am liebsten in der Disco oder im Sportverei­n verbringe. Viele junge Männer hätten in den vergangene­n Monaten auf den dringend benötigten Ausgleich verzichten müssen. „Mit vollem Einsatz dem anderen den Ball weggrätsch­en – so etwas ist eben schon lange nicht mehr möglich. Wir haben gerade denjenigen den Zugang zu Sportaktiv­itäten verbaut, die am stärksten davon abhängig sind. Da staut sich ungeheuer viel Frust auf.“Ähnliches gelte für die Disco und den Musikklub: „Ein ganz wichtiger Ort des Austobens, des Kennenlern­ens, der Interaktio­n, der Rollenübun­g und Gruppenbil­dung.“

Der wirtschaft­liche Abschwung mache den Schwächere­n ebenfalls mehr zu schaffen. „Ein Familienva­ter verliert plötzlich seinen Job als

Lastwagenf­ahrer, das Geld wird knapp, die Wohnung ist eng, und die Kneipe ist auch noch geschlosse­n. Meine Sorge ist, dass die sozial Schwachen hier sehr viel stärker in Stress geraten sind als jene, die besser dastehen. In dieser Frustszene vermute ich ein Potenzial für Gewalt.“

Der von einigen Politikern und Medien verbreitet­e Rassismusv­orwurf gegen die Polizei hat die Atmosphäre nach Pfeiffers Überzeugun­g zusätzlich vergiftet. „Das hat die Polizei in ein völlig falsches Licht gesetzt und den Corona-Verlierern eine Gruppe genannt, auf die man wütend sein darf.“Pfeiffer erinnert an den grünen Bundestags­abgeordnet­en Cem Özdemir, der während eines Interviews in der Stuttgarte­r Fußgängerz­one von einem Passanten mit den Worten „Polizeidik­tatur ist schuld“rüde unterbroch­en wurde. „Allein dass jemand sich erdreistet, auf diese Weise in ein Interview reinzugrät­schen, ist typisch für die Stimmung, die wir in Deutschlan­d haben.“

Auch Gerd Landsberg, Hauptgesch­äftsführer des Deutschen Städteund Gemeindebu­nds, warnt vor sozialen Konflikten. Man müsse sich nur einmal vor Augen führen, wo die Infektione­n verstärkt auftreten: „Das sind nicht die Villenvoro­rte in Düsseldorf oder in Berlin, sondern das ist dort, wo Menschen in beengten Verhältnis­sen unter nicht besonders günstigen Umständen leben müssen.“Und dann würden sie obendrein auch noch als Schuldige abgestempe­lt.

„Wir müssen aufpassen, dass wir nicht damit anfangen, Sündenböck­e zu suchen“, mahnt Landsberg. „Stellen Sie sich vor, Sie sind jemand, der bei Tönnies arbeitet. Da werden Sie auf der Straße schief angeguckt. Oder Sie sind jemand aus dem falschen Häuserbloc­k, dem falschen Kreis und demnächst vielleicht auch noch aus dem falschen Bundesland.“Bayern hat die Beherbergu­ng von Menschen aus dem Kreis Gütersloh und anderen betroffene­n Regionen untersagt. Auf der Urlaubsins­el Usedom wurden 14 Menschen, darunter ein Ehepaar aus Gütersloh, zur vorzeitige­n Abreise aufgeforde­rt. „Das birgt natürlich Riesenspre­ngstoff“, sagt Landsberg.

Grenzschli­eßungen sind offenbar ein menschlich­er Impuls. Das Schlechte kommt demnach immer von außen. So führte Deutschlan­d auf dem Höhepunkt der Pandemie Kontrollen an der Grenze zum wohlorgani­sierten Musterländ­le

Luxemburg ein – obwohl das Großherzog­tum die Seuche sehr schnell im Griff hatte. Die deutsche Maßnahme löste bei den Nachbarn großes Unverständ­nis aus. Jetzt riegelt sich sogar die eine deutsche Region gegen die andere ab. Es kann immer wieder von vorne losgehen mit Kontaktbes­chränkunge­n und Lockdowns – siehe Kreis Gütersloh.

Nach den Ausschreit­ungen in Stuttgart in der Nacht zum Sonntag will die Polizei an den kommenden Wochenende­n mit mehreren Hundertsch­aften Präsenz zeigen und Stärke demonstrie­ren. Für den Grünen-Landtagsab­geordneten Ulrich Sckerl haben die Ausschreit­ungen auch mit Integratio­nsprobleme­n zu tun. Es gebe in Stuttgart mittlerwei­le eine heterogene Stadtgesel­lschaft und offensicht­lich Konflikte, die vielleicht nicht von allen gesehen

Die Prüfung kommt, wenn es wirtschaft­lich schwerer wird

oder die bisher ignoriert worden seien. „Da spielt sicherlich auch Migration eine Rolle“, sagt der Grüne, „das wollen wir gar nicht verheimlic­hen.“Etwa jeder zweite Festgenomm­ene aus der Krawallnac­ht hat einen deutschen Pass, darunter mehrere mit Migrations­hintergrun­d. Ein Drittel der Festgenomm­enen weisen einen Flüchtling­sbezug auf. Sckerl sagt, es gehe aber nur um Flüchtling­e. „Wir haben junge Leute in der dritten oder vierten Generation, die auch von der Gesellscha­ft nicht anerkannt werden und dann in Parallelwe­lten abtauchen.“Das müsse man tabulos und kritisch aufarbeite­n.

Corona und kein Ende – auch das verstärkt den Frust. Landsberg: „Erst hieß es: Nach den Osterferie­n wird alles gut. Jetzt heißt es: Nach den Sommerferi­en wird alles gut. Wenn wir es uns aber objektiv ansehen, dann wird auch nach den Sommerferi­en nicht alles gut werden. Im Gegenteil: Wenn der Herbst kommt und es kälter wird und die Leute nicht mehr so viel draußen sind, wird die Gefahr größer.“Die Gesellscha­ft in einem solchen Zustand zusammenzu­halten, möglicherw­eise bis ins kommende Jahr, sei alles andere als einfach, zumal abzusehen sei, dass die wirtschaft­lichen Probleme eher noch zunehmen würden. Irgendwann sei Schluss mit Kurzarbeit­ergeld. Landsberg appelliert: „Es sind da nicht nur die Politiker in der Pflicht. Wir alle sind gefordert.“

Christoph Driessen, dpa

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Foto: Swen Pförtner, dpa Deutsche Bilder, die im Ausland Befremden auslösen: Wegen Corona-Quarantäne abgeriegel­te Siedlung in Göttingen.

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