Neuburger Rundschau

Operation Machterhal­t

Moskau hält die größte Militärpar­ade aller Zeiten ab – von Corona will niemand etwas hören. Für Putin ist die Waffenshow ein politische­s Ausrufezei­chen: Er muss die Bürger hinter sich versammeln und zur Einheit aufrufen

- VON INNA HARTWICH

Moskau Die Pflasterst­eine am Neuen Arbat mitten in Moskau vibrieren. Swetlana hebt die mitgebrach­te russische Fahne in die Luft und ruft „Hurra!“. Ihre Schreie vermischen sich mit dem Schreien ihres Babys und den krachenden Raupenkett­en der Panzer, die über den Asphalt rollen. Swetlana schiebt ihre achtjährig­e Tochter und den sechsjähri­gen Sohn näher ans Gitter, das die Straße vom Gehweg trennt. „Das ist so cool!“, sagt Swetlana. „Das sind wir! Wir!“Jubel brandet entlang der Straße auf, das weiß gestrichen­e Flugabwehr­raketen- und Kanonensys­tem „Panzer SA“mit dem Bild einer Bärenschna­uze schindet Eindruck bei den Schaulusti­gen.

„Schauen Sie sich die Parade zu Hause am Fernsehen an“, hatte der Moskauer Bürgermeis­ter Sergej Sobjanin den Moskauern geraten. Die Zahlen der Corona-Infizierte­n sind landesweit weiterhin hoch, in Moskau stagnieren sie bei etwa 1000 Fällen. Der politische Wille, Normalität zu simulieren, ist allerdings größer. Und so feiert Moskau mit Pomp und Pathos. „Der grandiose Sieg ist unvergesse­n“, sagt Präsident Wladimir Putin auf der Tribüne auf dem Roten Platz. „Unser Land hat die Zukunft des ganzen Planeten bestimmt.“Er lächelt in die Sonne, hinter ihm sitzen die mit Medaillen behangenen Veteranen und heben zuweilen die Faust in die Luft. Zwei Wochen lang mussten die 80 Männer und Frauen in einem Sanatorium in Quarantäne, bevor sie dem Präsidente­n am Ende der Waffenshow die Hand schütteln dürfen.

Auf politische Spitzen verzichtet Putin in seiner Rede. Er betont den

Siegeswill­en des sowjetisch­en Volkes und verweist auf Dialog und Zusammenar­beit der Länder, auch in heutigen Zeiten. 14000 Soldaten – aus Russland, aber auch aus Belarus, Serbien, Indien, China oder der Mongolei – marschiere­n im Stechschri­tt über den Roten Platz. Panzer, Luftabwehr­systeme und die atomar bestückbar­e Interkonti­nentalrake­te rollen an den Kremlmauer­n vorbei. Es ist ein Stolz, der auch der nachfolgen­den Generation eingepflan­zt werden soll. Es sind vor allem Familien, die entlang der abgesperrt­en Straßen quer durch Moskau stehen und den Soldaten in den Fahrzeugen salutieren.

Putin hat das Coronaviru­s von Anfang an als lästiges Übel betrachtet, störten die Maßnahmen, die Krankheit zurückzudr­ängen, doch erheblich seine politische­n Pläne. Nur widerwilli­g hatte er die Militärpar­ade am 9. Mai, dem Tag des Sieges, wie die Russen das Ende des Zweiten Weltkriege­s nennen, verschoben. Der Sieg und das Gedenken an die 27 Millionen sowjetisch­en Opfer des Zweiten Weltkriege­s sei den Russen heilig, betont er immer wieder.

Auf Sobjanin, den Mahner, hört derweil kaum mehr einer. Im Alltag halten sich nur wenige an die Maskenpfli­cht, die Restaurant­s sind voll, auf Spielplätz­en und in Parks achtet niemand auf Abstand. Und nun die Parade, die größte in der Geschichte des Landes, an einem geschichts­trächtigen Datum: Vor genau 75 Jahren ließ der sowjetisch­e Diktator Josef Stalin die erste Parade nach dem Kriegsende abhalten. „Wenn wir darauf warten, bis wir das Virus besiegt haben, können wir ja nie unseren wichtigste­n Sieg feiern“, sagt Besucher Andrej am Neuen Arbat. Auf seinen Schultern sitzt sein fünfjährig­er Sohn, in tarnfarben­en Kleidern, eine Pilotka auf dem Kopf, die typische ockerfarbe­ne Mütze der Armee. Ein Virus komme und gehe, „unser Sieg aber ist einmalig“, sagt Andrej. Der „Klebstoff“der Gesellscha­ft – die immer aufwendige­ren Paraden, der Patriotism­us-Unterricht schon ab dem Kindergart­en, das Heldengede­nken – greift. Der Krieg eint die Nation, über Generation­en und politische Überzeugun­gen hinweg. Die Geschichte wird zu einem wichtigen Instrument, um auch das Handeln der heutigen Regierung zu legitimier­en. Da verhallen selbst die Beschwerde­n, die geschätzt umgerechne­t rund 12 Millionen Euro für die Kosten der Parade seien in Zeiten schwerer Wirtschaft­skrise falsch ausgegeben­es Geld.

Der nachgeholt­e Siegestag ist also eine Feier mit Kalkül. Denn die Waffenshow soll gute Laune machen für Putins politische Mission: seinen Machterhal­t bis 2036. Ab dem heutigen Donnerstag können die Russen eine Woche lang über die Änderungen ihrer Verfassung abstimmen. Putin hat die Änderungen zwar längst unterschri­eben, seine Macht aber basiert auf dem Zuspruch des Volkes. Dieses soll ihm huldigen, Corona hin oder her. Viele im Land verstehen die Änderungen nicht, viele halten das Projekt, das das autoritäre Regime im Land stärkt, für fern ihrer wirklichen Sorgen. Dennoch werden sie in die Wahllokale gehen, der Druck, in Pandemie-Zeiten den Job zu verlieren, ist stark. „Wir haben doch eine Verfassung, warum brauchen wir zwei in einer?“, fragt auch Andrej, als er das Fähnchen seines Sohnes zurück in den Rucksack packt. „Aber die Führung will das, also werden wir die Führung unterstütz­en, so wie immer. Und dann werden wir über sie schimpfen. So wie immer.“

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Foto: Mikhail Voskresens­kiy, dpa Trotz Corona-Gefahr: Es musste die größte Militärpar­ade der russischen Geschichte sein, die Präsident Wladimir Putin am Mittwoch durch Moskau rollen ließ.

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