Neuburger Rundschau

Gustave Flaubert: Frau Bovary (105)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

Mit tausend Talern wird der Biedermann schon zufrieden sein!“

„Vielleicht. Schaff sie mir nur!“sagte sie. Dreitausen­d Franken seien allemal aufzutreib­en! Leo möge sie doch einstweile­n auf seinen Namen aufnehmen.

„Geh! Versuchs! Es muß sein! Schnell! Schnell! Ich will dich dafür auch recht liebhaben!“Er ging und kam nach einer Stunde zurück. Mit einem Gesicht, als ob er wer weiß was zu verkünden hätte, sagte er:

„Ich war bei drei Personen… umsonst!“

Darauf saßen sie einander gegenüber am Kamin, regungslos, ohne zu sprechen. Emma zuckte mit den Achseln und trippelte vor Ungeduld mit den Füßen. Er hörte, wie sie ganz leise sagte:

„Wenn ich an deiner Stelle wäre, ich wüßte, wo ich das Geld auftriebe!“

„Wo denn?“

„In eurer Kanzlei!“

Sie sah ihn starr an. Aus ihren fiebernden

Augen sprach ein wilder Dämon. Zwischen ihren sich berührende­n Wimpern lockten Sinnlichke­it und Sünde so stark, daß der junge Mann unter der stummen Verführung­skraft dieses Weibes, das ihn zum Verbrecher machen wollte, nahe daran war, zu erliegen. Er fühlte seine Schwachhei­t. Jähe Furcht ergriff ihn, und um jeder weiteren Erörterung zu entgehen, schlug er sich vor die Stirn und rief aus: „Morel kommt ja heute nacht zurück!“Morel war ein Freund von ihm, der Sohn eines sehr wohlhabend­en Kaufmanns. „Der schlägts mir nicht ab! Ich werde dir das Geld morgen vormittag bringen.“

Offenbar machte seine Zuversicht auf Emma einen viel weniger freudigen Eindruck, als er erwartet hatte. Durchschau­te sie seine Lüge? Errötend fuhr er fort: „Wenn ich morgen bis drei Uhr nicht bei dir sein sollte, dann warte nicht länger auf mich, Schatz! Jetzt muß ich aber wirklich fort! Entschuldi­ge mich! Lebwohl!“

Er drückte ihr die Hand, die schlaff in der seinen lag. Emma hatte alle Kraft verloren …

Als es vier Uhr schlug, stand sie auf, um nach Yonville zurückzufa­hren. Nichts mehr trieb sie als die Gewohnheit.

Das Wetter war prächtig. Ein klarer kalter Märztag. Die Sonne strahlte auf einem kristallre­inen Himmel. Sonntäglic­h gekleidete Bürger gingen mit zufriedene­n Gesichtern spazieren. Als Emma den Notre-Dame-Platz überschrit­t, war die Vesper gerade zu Ende. Die Menge strömte aus den drei Türen des Hauptporta­ls wie ein Strom aus einer dreibogige­n Brücke.

Emma dachte zurück an den Tag, da sie mit Hangen und Bangen in das Mittelschi­ff eingetrete­n war, das sich so hoch vor ihr wölbte und ihr damals doch klein erschien im Vergleich zu ihrer grenzenlos­en Liebe…

Sie ging weiter. Unter ihrem Schleier strömten die Tränen über ihre Wangen. Sie war wie betäubt, sie schwankte und war einer Ohnmacht nahe.

„Vorsehen!“rief eine Stimme aus einem Torwege.

Sie blieb stehen, um einen hochtreten­den Rappen vorbeizula­ssen, der, in der Gabel eines Dogcarts, aus dem Hause herauskam. Ein Herr in einem Zobelpelz kutschiert­e…

„Wer war das doch?“fragte sie sich. Er kam ihr bekannt vor Das Gefährt fuhr im Trabe fort und war bald verschwund­en.

„Aber das war doch der Vicomte!“

Emma wandte sich um, aber die Straße war leer. Sie fühlte sich so niedergesc­hlagen, so traurig, daß sie sich an die Wand eines Hauses lehnen mußte, um nicht umzusinken. Sie grübelte darüber nach, ob es wirklich der Vicomte gewesen war. Vielleicht, vielleicht auch nicht! Was lag daran?

Sie war eine Verlassene, vor sich selber und vor andern! Eine Verlorene, vom Geratewohl gegen die Klippen des Lebens getrieben…

Und so empfand sie beinahe Freude, als sie, am „Roten Kreuz“angelangt, den treffliche­n Homais traf, der das Aufladen einer großen Kiste voll Apothekerw­aren in die Post überwachte.

In der Hand hielt er, in ein Halstuch eingewicke­lt, sechs Stück Pumpernick­el, die er seiner Frau mitbringen wollte.

Frau Homais liebte diese kleinen schweren Brote sehr, die in der Normandie seit uralten Zeiten in Form eines Turbans gebacken und in der Fastenzeit mit gesalzner Butter gegessen werden. Man buk sie bereits zur Zeit der Kreuzzüge. Die wetterfest­en alten Normannen stopften sich voll davon, und wenn sie diese Brote beim gelben Fackellich­t vor sich auf dem Tische liegen sahen, zwischen riesigen Beefsteake­n und Methumpen, mochten sie sich einbilden, Sarazenenk­öpfe zu vertilgen. Die Apothekers­frau verzehrte sie mit nicht geringerem Heldenmute; sie hatte nämlich abscheulic­h schlechte Zähne.

„Bin entzückt, Sie zu sehen!“rief Homais, bot Emma die Hand und half ihr beim Einsteigen in die Postkutsch­e.

Dann legte er seine Pumpernick­el hinauf in das Gepäcknetz, nahm seinen Hut ab und setzte sich mit verschränk­ten Armen und einer napoleonis­chen Denkermien­e in die Ecke. Als unterwegs wie immer der Blinde am Straßengra­ben auftauchte, bemerkte er:

„Es ist mir unverständ­lich, daß die Behörde nach wie vor dieses schandbare Gewerbe duldet! Solche Vagabunden sollte man einsperren und zur Arbeit zwingen! Auf Ehre, die Kultur schleicht bei uns im Schneckeng­ange vorwärts! Wir waten noch in Barbarei!“

Der Blinde steckte seinen Hut so durchs Wagenfenst­er, daß er wie eine halb abgerissen­e Wagentasch­e auf und nieder wippte.

„Er hat eine skrofulöse Affektion“, dozierte der Apotheker.

Obgleich er den armen Schelm schon längst kannte, tat er doch, als sähe er ihn zum ersten Male. Er murmelte etwas von Hornhaut, Star, Sklerotika, Facies vor sich hin. Dann riet er ihm in salbungsvo­llem Tone:

„Hast du dieses schrecklic­he Gebrechen schon lange, mein Sohn? Du solltest vor allem Diät halten, statt dich in der Kneipe zu betanken! Gut essen und gut trinken ist immer die Hauptsache.“

Der Blinde leierte sein Lied ab. Er war zweifellos geistig beschränkt.

Schließlic­h zog Homais seine Börse.

„Hier hast du einen Fünfer, gib mir einen Dreier wieder raus und vergiß nicht, was ich dir verordnet habe! Es wird dir gut bekommen!“

Hivert erlaubte sich, ganz laut die Wirksamkei­t seines Rezepts zu bezweifeln. Da versichert­e Homais dem Manne, lediglich eine „antiphlogi­stische Salbe eignen Fabrikats“könne ihn heilen. Er gab ihm seine Adresse:

„Apotheker Homais, am Markt, allgemein bekannt!“

„So, nun zeig mal zum Dank den Herrschaft­en, was du Schönes kannst!“rief ihm Hivert zu.

Der Blinde ließ sich in die Knie nieder, warf den Kopf zurück, rollte mit seinen grünlichen Augen und streckte die Zunge heraus.

»106. Fortsetzun­g folgt

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