Corona: Missbrauch an Kindern blieb verborgen
Diplom-Psychologin Christiane Schuler vom Landratsamt Donau-Ries befürchtet, dass zwischen Mitte März und Mitte Juni mehr Übergriffe passiert sind als sonst. Acht Fälle sind ihr bekannt, doch wie hoch ist die Dunkelziffer?
Donau-Ries Wenn die kleine Laura mit ihrem Stiefpapa alleine ist, spürt sie, dass er sich komisch verhält. Die Vierjährige kann nicht mit Worten formulieren, was ihr seltsam vorkommt, aber intuitiv merkt sie, dass die Art und Weise, wie er sie anfasst, nicht in Ordnung ist. Zwar will ihr Stiefpapa sie beruhigen, sagt, das sei schon in Ordnung, schließlich fasse die Mama Laura auch so an, aber alles in dem Mädchen sträubt sich. Es vertraut sich schließlich verunsichert seiner Mutter an: „Mama, das stimmt doch gar nicht, dass du das auch bei mir machst.“
Die Mutter hört zu, fragt behutsam nach, will nicht glauben, was sie vermutet und schildert ihren Verdacht schließlich völlig aufgewühlt einer Erzieherin im Kindergarten. Die rät ihr, zur „Erziehungs-, Jugendund Familienberatung“am Landratsamt zu gehen und vermittelt den Kontakt. Dort hilft DiplomPsychologin Christiane Schuler weiter. Sie leitet die Fachstelle. Sie kennt die Alarmzeichen und weiß, was zu tun ist.
Wenn Christiane Schuler im Jahresbericht 2019 ihrer Fachstelle blättert, schlägt sie auf Seite 25 ein
Kapitel mit einem Themenbereich ihrer Arbeit auf, der ein besonderes Maß an Sensibilität verlangt: sexuelle Gewalt gegen Kinder. Meist passiert sie im unmittelbaren sozialen Umfeld. Statistisch gesehen sind es in 65 Prozent der Vorfälle Väter, Verwandte, Geschwister oder Bekannte, die sich an Mädchen und Buben vergreifen. Zu 16 Prozent sind es Gleichaltrige und zu 19 Prozent Unbekannte.
51 Fälle sind im vergangenen Jahr im Landkreis aktenkundig geworden. „Deutschlandweit waren es im selben Zeitraum insgesamt 16.000“, weiß Christiane Schuler. Jeder Fall davon ist einer zuviel, denn jedes Mal sind einem Kind mehr oder minder schwere körperliche Grenzverletzungen passiert, die nicht selten mit seelischen Verwundungen einhergehen. „Und die Dunkelziffer ist noch weitaus höher.“
Christiane Schuler befürchtet, dass auch der Corona-Lockdown diese Dunkelziffer begünstigt. Erst recht könne es jetzt zu verborgenen Fällen sexueller Gewalt kommen, wenn sie sich denn in einem geschlossenen System wie der Familie zutragen. „Durch die Isolation sind viele Kinder in noch größerer Gefahr vor innerfamiliärer Gewalt“,
die Diplom-Psychologin. „Über viele Wochen sind die Orte der Erholung außerhalb der Familie weggefallen: Sportverein, Schule, Kindergarten und andere mehr. Orte, an denen es auch Vertrauenspersonen gibt, denen das Verhalten eines Kindes auffällt, oder denen sich ein Kind anvertrauen kann.“
Oft ist es – wie bei Laura – nur ein diffuses Empfinden. Kinder können, je kleiner sie sind, eine Situation nicht richtig einschätzen. Es fehlt ihnen an Erfahrung. Wenn dann der sexuell übergriffige Täter das Kind auch noch mit einer Strategie manipuliert, gerät es erst recht in einen Konflikt. „Missbrauchte Kinder werden oft unter Druck gesetzt“, sagt Christiane Schuler. „Es wird ihnen erzählt, wenn es etwas von dem Erlebten verrate, dann passiere etwas Schlimmes. Sie müssten in ein Heim oder die Mama werde krank und solche Dinge.“
Die Diplom-Psychologin appelliert deshalb an Eltern, ihre Kinder zur Fähigkeit zu erziehen, Dinge anzusprechen, ihre Wahrnehmungen zu kommunizieren, erst recht dann, wenn sie etwas nicht verstehen, wenn ihnen etwas komisch vorkommt. „Ein Kind lernt daraus, dass es mit allem, was seltsam ist, zu seiner Mutter, seinem Vater oder anderen Vertrauten kommen darf, dass es ernst genommen wird.“
Gleichzeitig müssen Erwachsene das Selbstbestimmungsrecht eines Kindes über den eigenen Körper respektieren. „Nichts erzwingen“, rät Christiane Schuler. „Wenn ein Kind zur Begrüßung nicht abgebusselt werden mag, dann hat es ein Recht darauf.“
So sehr Christiane Schuler eine erhöhte Dunkelziffer während Corona fürchtet, so sehr sieht sie auch, dass eine Chance in diesem notwendigerweise engeren familiären Umfeld liegen kann. Wenn nämlich sexuelle Gewalt außerhalb der Familie stattgefunden hat, kann die Isolation zu Hause, die engere Bindung an die Eltern, mit denen sie nun mehr Zeit verbringen, auch dazu beitragen, dass sich missbrauchte Mädchen oder Buben leichter anvertrauen. Einfach deshalb, weil es mehr Gelegenheiten dazu gibt. „Ein Kind nimmt im Durchschnitt sechsmal Anlauf, ein unangenehmes oder schlimmes Erlebnis auszusprechen.“
Seit dem Ausbruch der Pandemie – von Mitte März bis Mitte Juni – wurden acht Fälle sexueller Übergriffe der „Erziehungs-, Jugendsagt und Familienberatung“gemeldet. „Von vier dieser Fälle hätten wir vermutlich ohne Corona nicht erfahren“, sagt Christiane Schuler. „Denn wenn Kinder sich anvertrauen wollen, brauchen sie günstige Gelegenheiten.“
Außenstehenden empfiehlt sie, nicht wegzuschauen, wenn sie den Verdacht haben, einem Kind werde Gewalt angetan, „weil es für die Betroffenen unerträglich ist, alleine gelassen zu werden. Erwachsene sollen Augen, Ohren und Herz offen halten, Gesprächspartner sein und überlegen, wo und wie sie Kinder gut unterstützen können.“
Jedem Kind wünscht Christiane Schuler, ein bisschen wie Pippi Langstrumpf sein zu dürfen und etwas von deren Kraft abzubekommen. Die legendäre KinderbuchHeldin von Astrid Lindgren gibt es auch als Puppe im Beratungszimmer der Diplom-Psychologin im Landratsamt.
„Meine Botschaft ist es, dass Kinder in ihrer Entwicklung unter der Begleitung von Erwachsenen lernen, starke Persönlichkeiten zu werden. Oder, wie es bei Pippi Langstrumpf heißt: „Pippi, der Sturm wird stärker! – Macht nichts, ich auch!“