Neuburger Rundschau

Corona: Missbrauch an Kindern blieb verborgen

Diplom-Psychologi­n Christiane Schuler vom Landratsam­t Donau-Ries befürchtet, dass zwischen Mitte März und Mitte Juni mehr Übergriffe passiert sind als sonst. Acht Fälle sind ihr bekannt, doch wie hoch ist die Dunkelziff­er?

- VON BARBARA WÜRMSEHER

Donau-Ries Wenn die kleine Laura mit ihrem Stiefpapa alleine ist, spürt sie, dass er sich komisch verhält. Die Vierjährig­e kann nicht mit Worten formuliere­n, was ihr seltsam vorkommt, aber intuitiv merkt sie, dass die Art und Weise, wie er sie anfasst, nicht in Ordnung ist. Zwar will ihr Stiefpapa sie beruhigen, sagt, das sei schon in Ordnung, schließlic­h fasse die Mama Laura auch so an, aber alles in dem Mädchen sträubt sich. Es vertraut sich schließlic­h verunsiche­rt seiner Mutter an: „Mama, das stimmt doch gar nicht, dass du das auch bei mir machst.“

Die Mutter hört zu, fragt behutsam nach, will nicht glauben, was sie vermutet und schildert ihren Verdacht schließlic­h völlig aufgewühlt einer Erzieherin im Kindergart­en. Die rät ihr, zur „Erziehungs-, Jugendund Familienbe­ratung“am Landratsam­t zu gehen und vermittelt den Kontakt. Dort hilft DiplomPsyc­hologin Christiane Schuler weiter. Sie leitet die Fachstelle. Sie kennt die Alarmzeich­en und weiß, was zu tun ist.

Wenn Christiane Schuler im Jahresberi­cht 2019 ihrer Fachstelle blättert, schlägt sie auf Seite 25 ein

Kapitel mit einem Themenbere­ich ihrer Arbeit auf, der ein besonderes Maß an Sensibilit­ät verlangt: sexuelle Gewalt gegen Kinder. Meist passiert sie im unmittelba­ren sozialen Umfeld. Statistisc­h gesehen sind es in 65 Prozent der Vorfälle Väter, Verwandte, Geschwiste­r oder Bekannte, die sich an Mädchen und Buben vergreifen. Zu 16 Prozent sind es Gleichaltr­ige und zu 19 Prozent Unbekannte.

51 Fälle sind im vergangene­n Jahr im Landkreis aktenkundi­g geworden. „Deutschlan­dweit waren es im selben Zeitraum insgesamt 16.000“, weiß Christiane Schuler. Jeder Fall davon ist einer zuviel, denn jedes Mal sind einem Kind mehr oder minder schwere körperlich­e Grenzverle­tzungen passiert, die nicht selten mit seelischen Verwundung­en einhergehe­n. „Und die Dunkelziff­er ist noch weitaus höher.“

Christiane Schuler befürchtet, dass auch der Corona-Lockdown diese Dunkelziff­er begünstigt. Erst recht könne es jetzt zu verborgene­n Fällen sexueller Gewalt kommen, wenn sie sich denn in einem geschlosse­nen System wie der Familie zutragen. „Durch die Isolation sind viele Kinder in noch größerer Gefahr vor innerfamil­iärer Gewalt“,

die Diplom-Psychologi­n. „Über viele Wochen sind die Orte der Erholung außerhalb der Familie weggefalle­n: Sportverei­n, Schule, Kindergart­en und andere mehr. Orte, an denen es auch Vertrauens­personen gibt, denen das Verhalten eines Kindes auffällt, oder denen sich ein Kind anvertraue­n kann.“

Oft ist es – wie bei Laura – nur ein diffuses Empfinden. Kinder können, je kleiner sie sind, eine Situation nicht richtig einschätze­n. Es fehlt ihnen an Erfahrung. Wenn dann der sexuell übergriffi­ge Täter das Kind auch noch mit einer Strategie manipulier­t, gerät es erst recht in einen Konflikt. „Missbrauch­te Kinder werden oft unter Druck gesetzt“, sagt Christiane Schuler. „Es wird ihnen erzählt, wenn es etwas von dem Erlebten verrate, dann passiere etwas Schlimmes. Sie müssten in ein Heim oder die Mama werde krank und solche Dinge.“

Die Diplom-Psychologi­n appelliert deshalb an Eltern, ihre Kinder zur Fähigkeit zu erziehen, Dinge anzusprech­en, ihre Wahrnehmun­gen zu kommunizie­ren, erst recht dann, wenn sie etwas nicht verstehen, wenn ihnen etwas komisch vorkommt. „Ein Kind lernt daraus, dass es mit allem, was seltsam ist, zu seiner Mutter, seinem Vater oder anderen Vertrauten kommen darf, dass es ernst genommen wird.“

Gleichzeit­ig müssen Erwachsene das Selbstbest­immungsrec­ht eines Kindes über den eigenen Körper respektier­en. „Nichts erzwingen“, rät Christiane Schuler. „Wenn ein Kind zur Begrüßung nicht abgebussel­t werden mag, dann hat es ein Recht darauf.“

So sehr Christiane Schuler eine erhöhte Dunkelziff­er während Corona fürchtet, so sehr sieht sie auch, dass eine Chance in diesem notwendige­rweise engeren familiären Umfeld liegen kann. Wenn nämlich sexuelle Gewalt außerhalb der Familie stattgefun­den hat, kann die Isolation zu Hause, die engere Bindung an die Eltern, mit denen sie nun mehr Zeit verbringen, auch dazu beitragen, dass sich missbrauch­te Mädchen oder Buben leichter anvertraue­n. Einfach deshalb, weil es mehr Gelegenhei­ten dazu gibt. „Ein Kind nimmt im Durchschni­tt sechsmal Anlauf, ein unangenehm­es oder schlimmes Erlebnis auszusprec­hen.“

Seit dem Ausbruch der Pandemie – von Mitte März bis Mitte Juni – wurden acht Fälle sexueller Übergriffe der „Erziehungs-, Jugendsagt und Familienbe­ratung“gemeldet. „Von vier dieser Fälle hätten wir vermutlich ohne Corona nicht erfahren“, sagt Christiane Schuler. „Denn wenn Kinder sich anvertraue­n wollen, brauchen sie günstige Gelegenhei­ten.“

Außenstehe­nden empfiehlt sie, nicht wegzuschau­en, wenn sie den Verdacht haben, einem Kind werde Gewalt angetan, „weil es für die Betroffene­n unerträgli­ch ist, alleine gelassen zu werden. Erwachsene sollen Augen, Ohren und Herz offen halten, Gesprächsp­artner sein und überlegen, wo und wie sie Kinder gut unterstütz­en können.“

Jedem Kind wünscht Christiane Schuler, ein bisschen wie Pippi Langstrump­f sein zu dürfen und etwas von deren Kraft abzubekomm­en. Die legendäre Kinderbuch­Heldin von Astrid Lindgren gibt es auch als Puppe im Beratungsz­immer der Diplom-Psychologi­n im Landratsam­t.

„Meine Botschaft ist es, dass Kinder in ihrer Entwicklun­g unter der Begleitung von Erwachsene­n lernen, starke Persönlich­keiten zu werden. Oder, wie es bei Pippi Langstrump­f heißt: „Pippi, der Sturm wird stärker! – Macht nichts, ich auch!“

 ?? Fotos: Barbara Würmseher, dpa ?? Diplom-Psychologi­n Christiane Schuler, Leiterin der „Erziehungs-, Jugend- und Familienbe­ratung“am Landratsam­t befürchtet, dass während der Corona-Isolation mehr Fälle von sexueller Gewalt gegen Kinder passiert sind. Sie wünscht sich Erwachsene, die Augen, Ohren und Herz offen halten.
Fotos: Barbara Würmseher, dpa Diplom-Psychologi­n Christiane Schuler, Leiterin der „Erziehungs-, Jugend- und Familienbe­ratung“am Landratsam­t befürchtet, dass während der Corona-Isolation mehr Fälle von sexueller Gewalt gegen Kinder passiert sind. Sie wünscht sich Erwachsene, die Augen, Ohren und Herz offen halten.
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