Neuburger Rundschau

Die Menschen erwarten vom Glauben echten Mehrwert

Gegen immer mehr Austritte hilft es wenig, die Vergangenh­eit zu beschwören. Die Kirche muss Schritt halten und sich der Zukunft öffnen

- VON ALOIS KNOLLER loi@augsburger-allgemeine.de

Nach der Logik der Statistik werden die beiden großen Kirchen in Deutschlan­d irgendwann aufhören zu existieren. Ein jährlicher Aderlass von inzwischen einer halben Million Mitglieder kann selbst mit kühnsten Wachstums- und Werbestrat­egien nicht mehr wettgemach­t werden. Die katholisch­e und die evangelisc­he Religionsg­emeinschaf­t werden – so sehr man es bedauern mag – unweigerli­ch immer kleiner. Es ist zu erwarten, dass sich die Krise jetzt immer mehr verschärft.

Eine Prognose der Universitä­t Freiburg kam 2019 zu dem Schluss, dass sich ihre Mitglieder­zahlen bis zum Jahr 2060 halbieren werden. Damit wird den Kirchen deutlich weniger Geld zur Verfügung stehen, um den Betrieb aufrechtzu­erhalten. Sie werden ihr Personal reduzieren, ihre Gebäude zum Teil verkaufen und ihre Einrichtun­gen auf ihre wirtschaft­liche Tragfähigk­eit hin prüfen müssen. All dies ist in einigen jetzt schon darbenden Regionen bereits in Gang gesetzt worden.

Warum wenden sich die Deutschen von den Kirchen ab? Darüber gibt es viele Vermutunge­n. Sicher ist im Wohlstand die Angefochte­nheit der menschlich­en Existenz weniger spürbar. Man kann es sich scheinbar leisten, ohne jenseitige Versicheru­ng zu leben. Und es sieht nicht danach aus, dass die Corona-Pandemie daran etwas ändert. Sicher wirkt sich auch der Drang zur Individual­isierung auf die Bereitscha­ft aus, sich an Institutio­nen zu binden. Das gilt für Kirchen genauso wie für Parteien, Vereine oder Gewerkscha­ften. Das heutige Freiheitsp­athos duldet keine vorgegeben­en Normierung­en.

Man würde es sich zu leicht machen, dies als üblen Zeitgeist abzutun, dem die verblieben­en Gläubigen umso standhafte­r widerstehe­n sollten. Konservati­ve raten der Kirche, sich auf die übernatürl­iche Botschaft zu konzentrie­ren, aus den

Weltdingen tunlichst herauszuha­lten und treu zum Althergebr­achten zu stehen. Aber auch die Kirchen werden von den Zeitströmu­ngen erfasst und müssen darauf reagieren, um nicht Gefahr zu laufen, die Menschen zu verlieren. Der neue Augsburger Bischof Bertram Meier wird nicht müde zu betonen, dass Kirche sich der Zukunft öffnen soll und Schritt halten mit den Menschen.

Tatsächlic­h haben beide Kirchen Reformproz­esse aufgegleis­t, um verlorene Glaubwürdi­gkeit wiederzuge­winnen und mit ihren seelsorgli­chen Diensten näher an den Menschen zu sein. Speziell die katholisch­e Kirche ist dabei jedoch in ihrer Tradition gefangen. Trotz der Erschütter­ungen durch den Missbrauch­sskandal ist der Klerikalis­mus nicht überwunden. Während coronabedi­ngt die Gotteshäus­er geschlosse­n waren, zelebriert­en die Priester munter für sich allein. Als bräuchten sie keine Gemeinde. Wen wundert es, wenn sich die Gläubigen dann zurückzieh­en?

Während des Shutdown haben etliche Katholiken entdeckt, dass sie sich geistlich auch selbst versorgen können. Hier muss dringend ein neues Miteinande­r einziehen, dass fürs Religiöse künftig eben nicht nur der Pfarrer zuständig ist. Ein heikler Punkt dabei ist das Verhältnis der Kirche zu den Frauen. Wann finden sie katholisch­erseits endlich Anerkennun­g mit der Befugnis zum Predigen und zum Segnen (etwa der Kranken)? Davon hängt durchaus einiges ab.

Stromlinie­nförmige Gefolgscha­ft war gestern. Heute muss sich die Religion um jede Seele bemühen. Zeitgenoss­en fragen: Was bringt mir die Kirche? Wo sie im Ritualisie­rten erstirbt, wird sie nicht überzeugen. Im Glauben muss ein echter Mehrwert stecken. Er muss mich aufrichten, trösten, ermutigen, inspiriere­n. Biblische Erzählunge­n gilt es, im Heute zu verankern. Dafür genügt kein einsamer Prediger, es braucht das ganze Volk Gottes.

Stromlinie­nförmige Gefolgscha­ft war gestern

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