Neuburger Rundschau

Wem gehört die Hagia Sophia?

Tausend Jahre lang war der Prachtbau in Istanbul die wichtigste Kirche des Christentu­ms. Heute beherbergt er ein Museum, das jedes Jahr Millionen besuchen. Doch Präsident Erdogan will die Hagia Sophia wieder zur Moschee machen. Vieles hängt nun von einem

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Eine würdige Ruhe umgibt die Hagia Sophia in diesen Tagen. Jetzt, wo der Trubel an ihren Rockschöße­n für einen Augenblick ihrer anderthalb­tausendjäh­rigen Geschichte ausgesetzt hat. Wo sonst Reiseleite­r, Souvenirhä­ndler und Imbissverk­äufer herumwusel­n und tausende Touristen aus aller Welt anstehen, um Eintritt zu bezahlen, watscheln nur ein paar Möwen herum. Seit zwei Wochen landen wieder Auslandsfl­üge in der Türkei. Unter den Kastanienb­äumen vor dem byzantinis­chen Kirchenbau mit Minaretten ist davon nichts zu spüren. Die meisten Sitzbänke leer. Doch selbst in Zeiten der Pandemie hat die Hagia Sophia ihre weltweite Anziehungs­kraft nicht ganz verloren.

Manuel Aviles etwa ist mitten in der Corona-Krise um die halbe Welt gereist, um die bedeutends­te Kirche der Kulturgesc­hichte zu sehen – und nun zu spät gekommen. Mit einem Seufzer lässt der Ecuadorian­er seinen Rucksack auf den Boden gleiten und blickt enttäuscht auf das verschloss­ene Tor. Die Museumskas­se schließt um vier Uhr nachmittag­s, das hat er um ein paar Minuten verpasst. Viel härter trifft ihn aber, was er erst hier erfährt: Die Hagia Sophia soll nach einer Gerichtsen­tscheidung in dieser Woche vielleicht bald ihren Status als Museum verlieren und zur Moschee umfunktion­iert werden. „Das wäre ja schlimm!“, entfährt es dem 45-jährigen Fotografen und Hobby-Historiker.

Ein anstehende­s Urteil des türkischen Verwaltung­sgerichtsh­ofes könnte das Schicksal der Hagia Sophia besiegeln. Die Richter haben von diesem Donnerstag an über die Klage eines islamische­n Vereins zu entscheide­n, der das Gebäude wieder zur Moschee machen will. Sollte das Urteil, das spätestens in zwei Wochen erwartet wird, eine Umwandlung ermögliche­n, will Präsident Recep Tayyip Erdogan rasch handeln. Der Staatschef machte sich in jüngster Zeit mehrmals für den Plan stark, weil er sich davon mehr Unterstütz­ung islamistis­cher Wähler erwartet. Am 15. Juli, an dem sich der Putschvers­uch von 2016 jährt, soll nach Medienberi­chten der erste islamische Gottesdien­st in der Hagia Sophia stattfinde­n.

Als Christ könne er der Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee nicht zustimmen, sagt der Ecuadorian­er Alvires, aber auch als Kenner der Kulturgesc­hichte habe er große Bedenken gegen das Vorhaben. Die Hagia Sophia habe einen so bedeutende­n Platz in der westlichen Zivilisati­onsgeschic­hte, dass sie als Museum allen Menschen zugänglich bleiben müsse. Dass der Bau auch als Moschee öffentlich zugänglich bleiben würde – zumindest außerhalb der Gebetszeit­en – und dass Besucher sich dann sogar das Eintrittsg­eld von 100 Lira (umgerechne­t 13 Euro) sparen könnten, kann Alvires nicht mit dem Vorhaversö­hnen. „Wenn sie erst einmal zur Moschee erklärt ist, dann wird man sicher nicht mehr alle Bereiche besichtige­n können“, meint er. Das habe er auf einer früheren Station seiner Weltreise in Malaysia zu sehen bekommen: „Alles, was vor dem Islam kam, interessie­rt in diesen Ländern nicht“, sagt er. Stattdesse­n würden Bauwerke dem Verfall überlassen. „Da zahle ich doch lieber Eintritt.“

Wie Alvires bewundern Besucher aus aller Welt die Hagia Sophia, seit sie im sechsten Jahrhunder­t als Hauptkirch­e des Oströmisch­en Reiches gebaut wurde. Die „Kirche der Heiligen Weisheit“, wie ihr Name übersetzt heißt, war von Anfang an ein Bau der Superlativ­e. „Salomon, ich habe dich übertroffe­n“, soll der byzantinis­che Kaiser Justinian gesagt haben, als er bei der Einweihung im Dezember des Jahres 537 zum ersten Mal das Innere betrat: Selbst Salomons Tempel in Jerusalem kam demnach nicht an die Pracht der Hagia Sophia heran.

Goldene Mosaiken erstrahlte­n im Sonnenlich­t, das durch die Fenster hereinströ­mte. Zeitgenöss­ische Besucher beschriebe­n überwältig­ende Schätze in der Kirche, doch davon ist seit der Plünderung der Hagia Sophia durch westeuropä­ische Kreuzzügle­r im 13. Jahrhunder­t nichts mehr übrig. Sie brachten Maultiere in die Kirche, um Gold und Silber abzutransp­ortieren, und schafften selbst den Altar fort.

Hauptattra­ktion der Hagia Sophia ist bis heute die riesige Kuppel, die bei einem Erdbeben ein halbes Jahrhunder­t nach dem Bau einstürzte und danach erweitert wurde: Sie hat einen Durchmesse­r von 31 Metern und erhebt sich 56 Meter über dem Boden – doch trotz der gewaltigen Ausmaße wirkt sie wegen ihrer 40 Fenster, als würde sie schweben. Für Mimar Sinan, den wichtigste­n Architekte­n der Osmanen, war die Hagia Sophia ein entscheide­nder Einfluss. Auch Sinans Prachtmosc­heen, etwa die Süleymaniy­e-Moschee in Istanbul, zeichnen sich durch dominieren­de Kuppeln aus.

Fast tausend Jahre blieb die Hagia Sophia die wichtigste Kirche des Christentu­ms, dann wurde sie wie über Nacht zur wichtigste­n Moschee des muslimisch­en OsmanenRei­ches: Am 29. Mai 1453 eroberten die Osmanen unter Sultan Mehmed II. das damalige Konstantin­opel – heute Istanbul – und beendeten daben mit das Byzantiner-Reich. Mehmed verbot seinen Soldaten, die Kirche zu plündern, und erklärte sie am 1. Juni zur Moschee. Später erhielt die ehemalige Kirche vier Minarette. Nach der Gründung der Türkischen Republik wurde das Gebäude per Kabinettsb­eschluss im Jahr 1934 zum Museum erklärt; der Beschluss trat 1935 in Kraft. Heute steht die Hagia Sophia unter dem Schutz der UN-Kulturorga­nisation Unesco und wird von fast vier Millionen Touristen im Jahr besucht.

Doch türkische Islamisten wollen den Museumssta­tus nicht hinnehmen. Inzwischen werden an hohen Feiertagen islamische Gebete in der Hagia Sophia rezitiert, zuletzt am Eroberungs­tag im Mai, doch auch das reicht ihnen nicht. Der „Verein für den Dienst am Historisch­en

Erbe und an der Umwelt“will die Rückumwand­lung in eine Moschee gerichtlic­h durchsetze­n. In den vergangene­n Jahren erzielte er einen wichtigen Etappensie­g, indem er vor Gericht die Umwandlung des byzantinis­chen Chora-Klosters in Istanbul in eine Moschee erstritt.

Jetzt ist die Hagia Sophia an der Reihe. Für die Moschee-Befürworte­r geht es dabei nicht nur um den Islam – für sie ist die Hagia Sophia ein Symbol der türkischen Nation. Die Türkei fühle sich „noch immer vom Westen gegängelt und bevormunde­t“, sagte der Historiker Mehmet Celik, selbst ein Anhänger der Umwidmung, einmal. „Sie wird sich erst wirklich unabhängig fühlen, wenn die Hagia Sophia wieder zur Moschee wird.“

Rechtsexpe­rten erwarten, dass der türkische Verwaltung­sgerichtsh­of an diesem Donnerstag zwar die Forderung nach Aufhebung des Kabinettsb­eschlusses von 1934 abweisen wird – gleichzeit­ig aber doch den Weg für die Umwandlung zur Moschee eröffnen dürfte. Demnach werden die Richter voraussich­tlich die Befugnis der Regierung betonen, über die Verwendung historisch­er Bauten als Museum oder Gotteshaus zu entscheide­n. Wenn das Urteil so ausfällt, steht einem Beschluss von Erdogans Kabinett zur Umwidmung der Hagia Sophia nichts mehr im Wege.

Umfragen zeigen, dass mehr als 70 Prozent der Türken die Umwandlung in eine Moschee befürworte­n. Doch die Besucher vor der Hagia Sophia wenige Tage vor dem Verwaltung­sgerichtsu­rteil sind da ganz anderer Meinung. Mehti Sönmez und Gizem Yalcin aus der zentralana­tolischen Stadt Konya, einer für ihre islamische Frömmigkei­t bekannten Stadt, finden beide, die Hagia Sophia müsse ein Museum bleiben: „Moscheen haben wir doch genug.“Ömer Laciner, der aus Antalya für einen Verwandten­besuch nach Istanbul gekommen ist, ist der Meinung, dass man „die Geschichte nicht antasten“und die Hagia Sophia als Museum erhalten sollte. Laciner fragt sich außerdem, wo denn die Gläubigen für den Riesenbau herkommen sollen: „Das ist doch lächerlich, wenn da gerade einmal hundert Leute beten.“

Ähnlich äußerte sich auch Erdogan noch bis vor kurzem. Die Moschee-Anhänger sollten es erst einmal schaffen, die neben der Hagia Sophia gelegene Blaue Moschee mit Gläubigen zu füllen, sagte der Präsident noch im vergangene­n Jahr. Inzwischen hat er seine Meinung geändert. Angesichts ungünstige­r Umfragewer­te für seine Partei AKP und einer Diskussion über vorgezogen­e Neuwahlen will er um islamistis­che und nationalis­tische Wähler werben.

Im Staatssend­er TRT sagte der Präsident, die Entscheidu­ng über die Hagia Sophia liege bei der Nation. Devlet Bahceli, Chef der rechtsgeri­chteten Partei MHP und Erdogans Koalitions­partner im Parlament, stellte sich öffentlich hinter die Forderung nach einer Umwandlung und verstärkte damit den Druck auf den Präsidente­n. Im Parlament lehnte die AKP zwar kürzlich den Antrag einer konservati­ven Opposition­spartei in der Sache ab, kündigte aber gleichzeit­ig an, im Juli selbst die „nötigen Schritte“zu unternehme­n.

Der Nachbar Griechenla­nd, der die Hagia Sophia als Symbol des orthodoxen Christentu­ms verehrt, ist

Die riesige Kuppel wirkt, als würde sie schweben

Für die Moschee-Befürworte­r ist sie ein Symbol der Türkei

entsetzt. Athen schaltete die Unesco ein, die Ankara daran erinnerte, dass jede Veränderun­g im Status eines Denkmals des Weltkultur­erbes wie der Hagia Sophia nur mit Zustimmung der UN-Kulturorga­nisation möglich ist. Ankara gibt sich jedoch unbeeindru­ckt. Über die Hagia Sophia entscheide nicht die internatio­nale Politik, sondern nur die Türkei allein, sagte Außenminis­ter Mevlüt Cavusoglu.

Von der armenische­n Kirche in der Türkei kam inzwischen der Vorschlag, bei einer Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee auch den Christen in der ehemaligen Kirche einen Bereich für Gottesdien­ste und Gebete zur Verfügung zu stellen. Präsident Erdogan hat sich dazu bisher nicht geäußert. Es ist aber unwahrsche­inlich, dass seine islamistis­chen Wähler applaudier­en würden, wenn die Hagia Sophia mit den Christen geteilt wird. Orthodoxe Christen in den USA erbitten deshalb Hilfe aus dem Weißen Haus, um die Umwandlung in eine Moschee doch noch zu verhindern: Sie rufen Präsident Donald Trump auf, bei Erdogan zu intervenie­ren. Passiert ist bisher nichts.

 ?? Foto: Emrah Gurel/AP, dpa ?? Der beeindruck­ende Innenraum der Hagia Sophia in Istanbul: Der Kirchenbau aus dem sechsten Jahrhunder­t steht nun im Mittelpunk­t einer hitzigen Debatte zwischen konservati­ven Gruppen, die es in eine Moschee umwandeln wollen, und jenen, die glauben, dass das Weltkultur­erbe ein Museum bleiben sollte.
Foto: Emrah Gurel/AP, dpa Der beeindruck­ende Innenraum der Hagia Sophia in Istanbul: Der Kirchenbau aus dem sechsten Jahrhunder­t steht nun im Mittelpunk­t einer hitzigen Debatte zwischen konservati­ven Gruppen, die es in eine Moschee umwandeln wollen, und jenen, die glauben, dass das Weltkultur­erbe ein Museum bleiben sollte.
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Foto: dpa Die Hagia Sophia ist eine der wichtigste­n Touristena­ttraktione­n der Türkei. Sie steht im historisch­en Stadtteil Sultanahme­t.

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