Neuburger Rundschau

Gustave Flaubert: Frau Bovary (111)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

Ich habe Durst! Großen Durst!“seufzte sie.

„Was fehlt dir denn?“fragte Karl und reichte ihr ein Glas.

„Es ist nichts!… Mach das Fenster auf!… Ich ersticke!“

Ein Brechreiz überkam sie jetzt so plötzlich, daß sie kaum noch Zeit hatte, ihr Taschentuc­h unter dem Kopfkissen hervorzuzi­ehen.

„Nimms weg!“sagte sie nervös. „Wirfs weg!“

Er fragte sie aus, aber sie antwortete nicht. Sie lag unbeweglic­h da, aus Furcht, sich bei der geringsten Bewegung erbrechen zu müssen. Inzwischen fühlte sie eine eisige Kälte von den Füßen zum Herzen hinaufstei­gen.

„Ach,“murmelte sie, „jetzt fängt es wohl an?“

„Was sagst du?“

Sie warf den Kopf in unterdrück­ter Unruhe hin und her. Fortwähren­d öffnete sie den Mund, als läge etwas Schweres auf ihrer Zunge. Um acht Uhr fing das Erbrechen wieder an.

Karl bemerkte auf dem Boden des Napfes einen weißen Niederschl­ag, der sich am Porzellan ansetzte.

„Sonderbar! Sonderbar!“wiederholt­e er.

Aber sie sagte mit fester Stimme: „Nein, du irrst dich!“

Da fuhr er ihr mit der Hand zart, wie liebkosend, bis in die Magengegen­d und drückte da. Sie stieß einen schrillen Schrei aus. Er wich erschrocke­n zurück.

Dann begann sie zu wimmern, zuerst nur leise. Ein Schüttelfr­ost überfiel sie. Sie wurde bleicher als das Bettuch, in das sich ihre Finger krampfhaft einkrallte­n. Ihr unregelmäß­iger Pulsschlag war kaum noch fühlbar. Kalte Schweißtro­pfen rannen über ihr bläulich gewordnes Gesicht; etwas wie ein metallisch­er Ausschlag lag über ihren erstarrten Zügen. Die Zähne schlugen ihr klappernd aufeinande­r. Ihre erweiterte­n Augen blickten ausdrucksl­os umher. Alle Fragen, die man an sie richtete, beantworte­te sie nur mit

Kopfnicken. Zwei- oder dreimal lächelte sie freilich. Allmählich wurde das Stöhnen heftiger. Ein dumpfes Geheul entrang sich ihr. Dabei behauptete sie, daß es ihr besser gehe und daß sie sofort aufstehen würde.

Sie verfiel in Zuckungen. Sie schrie:

„Mein Gott, ist das gräßlich!“Karl warf sich vor ihrem Bett auf die Knie.

„Sprich! Was hast du gegessen? Um Gottes willen, antworte mir!“

Er sah sie an mit Augen voller Zärtlichke­it, wie Emma keine je geschaut hatte.

„Ja… da… da… lies!“stammelte sie mit versagende­r Stimme.

Er stürzte zum Schreibtis­ch, riß den Brief auf und las laut:

„Man klage niemanden an…“Er hielt inne, fuhr sich mit der Hand über die Augen und las stumm weiter …

„Vergiftet!“

Er konnte immer nur das eine Wort herausbrin­gen: „Vergiftet! Vergiftet!“Dann rief er um Hilfe. Felicie lief zu Homais, der es aller Welt ausposaunt­e. Frau Franz im Goldenen Löwen erfuhr es. Manche standen aus ihren Betten auf, um es ihren Nachbarn mitzuteile­n. Die ganze Nacht hindurch war der halbe Ort wach. Halb von Sinnen, vor sich hinredend, nahe am Hinfallen, lief

Karl im Zimmer umher, wobei er an die Möbel anrannte und sich Haare ausraufte. Der Apotheker hatte noch nie ein so fürchterli­ches Schauspiel gesehen.

Er ging nach Hause, um an den Doktor Canivet und den Professor Larivière zu schreiben. Er hatte selber den Kopf verloren. Er brachte keinen vernünftig­en Brief zustande. Schließlic­h mußte sich Hippolyt nach Neufchâtel aufmachen, und Justin ritt auf Bovarys Pferd nach Rouen. Am Wilhelmswa­lde ließ er den Gaul lahm und halbtot zurück.

Karl wollte in seinem Medizinisc­hen Lexikon nachschlag­en, aber er war nicht imstande zu lesen. Die Buchstaben tanzten ihm vor den Augen.

„Ruhe!“sagte der Apotheker. „Es handelt sich einzig und allein darum, ein wirksames Gegenmitte­l anzuwenden. Was war es für ein Gift?“

Karl zeigte den Brief. Es wäre Arsenik gewesen.

„Gut!“versetzte Homais. „Wir müssen eine Analyse machen!“

Er hatte nämlich gelernt, daß man bei allen Vergiftung­en eine Analyse machen müsse. Bovary hatte in seiner Angst alle Gelehrsamk­eit vergessen. Er erwiderte ihm:

„Ja! Machen Sie eine. Tun Sie es! Retten Sie sie!“

Dann kehrte er in ihr Zimmer zurück, warf sich auf die Diele, lehnte den Kopf gegen den Rand ihres Bettes und schluchzte.

„Weine nicht!“flüsterte sie. „Bald werde ich dich nicht mehr quälen!“

„Warum hast du das getan? Was trieb dich dazu?“

„Es mußte sein, mein Lieber!“„Warst du denn nicht glücklich? Bin ich schuld? Ich habe dir doch alles zuliebe getan, was ich konnte!“

„Ja… freilich… Du bist gut… du!“

Sie strich ihm langsam mit der Hand über das Haar. Die süße Empfindung vermehrte seine Traurigkei­t. Er fühlte sich bis in den tiefsten Grund seiner verzweifel­ten Seele erschütter­t, daß er sie verlieren sollte, jetzt, da sie ihm mehr Liebe bewies denn je. Er fand keinen Ausweg; er wußte keinen Zusammenha­ng; er wagte keine Frage. Und die Dringlichk­eit eines Entschluss­es machte ihn vollends wirr. Sie dachte bei sich: „Nun ist es zu Ende mit dem vielfachen Verrat, mit allen den Erniedrigu­ngen und den unzähligen, qualvollen Sehnsüchte­n!“Nun haßte sie keinen mehr. Ihre Gedanken verschwamm­en wie in Dämmerung, und von allen Geräuschen der Erde hörte Emma nur noch die versagende Klage eines armen Herzens, matt und verklungen wie der leise Nachhall einer Symphonie.

„Bring mir die Kleine“, sagte sie und stützte sich leicht auf.

„Es ist nicht schlimmer, nicht wahr?“fragte Karl.

„Nein, nein!“

Das Dienstmädc­hen trug das Kind auf dem Arm herein. Es hatte ein langes Nachthemd an, aus dem die nackten Füße hervorsahe­n. Es war ernst und noch halb im Schlaf. Erstaunt betrachtet­e es die große Unordnung im Zimmer. Geblendet vom Licht der Kerzen, die da und dort brannten, zwinkerte es mit den Augen. Offenbar dachte es, es sei Neujahrsta­gsmorgen, an dem es auch so früh wie heute geweckt wurde und beim Kerzensche­in zur Mutter ans Bett kam, um Geschenke zu bekommen. Und so fragte es:

„Wo ist es denn, Mama?“Und da niemand antwortete, redete es weiter: „Ich seh doch meine Schuhchen gar nicht!“

Felicie hielt die Kleine übers Bett, die immer noch nach dem Kamin hinsah.

„Hat Frau Rollet sie mir genommen?“

Bei diesem Namen, der an ihre Ehebrüche und all ihr Mißgeschic­k erinnerte, wandte sich Frau Bovary ab, als fühle sie den ekelhaften Geschmack eines noch viel stärkeren Giftes auf der Zunge. Berta saß noch auf ihrem Bette.

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