Neuburger Rundschau

Das erste Kind der Friedensbe­wegung

Als Kind darf Juandalynn Abernathy nicht draußen spielen, nicht die gleiche Toilette benutzen wie Weiße. Dann bringt ihr Vater an der Seite von Martin Luther King den Protest auf die Straße. Sie zieht nach Deutschlan­d. Doch der Rassismus folgt ihr auf die

- VON ERICH NYFFENEGGE­R

Balingen 1997 ist kein Jahr, das von einer besonderen Rassismusd­ebatte geprägt gewesen wäre – ganz im Gegensatz zu diesen Tagen des Jahres 2020. Wahrschein­lich halten sich die Menschen dieser Zeit für offen und aufgeklärt. Trotzdem ist der Rassismus natürlich auch damals lebendig. Etwa auf der Schwäbisch­en Alb, wo eine junge Frau mit dunkler Hautfarbe weinend in einem Café in Albstadt sitzt. Ihr norddeutsc­her, groß gewachsene­r Ehemann, der weißer nicht sein könnte, versucht sie zu trösten. Und schafft es doch nicht, sie in diesem deprimiere­nden Augenblick zu beruhigen.

Gerade eben hat das neu verheirate­te Ehepaar eine weitere Absage eines Vermieters kassiert. „Die Leute waren zuerst immer sehr interessie­rt, weil mein Mann eine angesehene Arbeit bei der Bundeswehr hatte“, erinnert sich Juandalynn Abernathy noch heute an diese Tage. Doch als die Vermieter dann bei der Besichtigu­ng feststelle­n, dass die Frau des Offiziers schwarz ist, heißt es: „Tut uns leid – jetzt ist die Wohnung doch schon vergeben.“

Dabei ahnen die Menschen nicht, wem sie da die Tür vor der Nase zuschlagen. Juandalynn Abernathy ist die Tochter von Ralph Abernathy, der gemeinsam mit Martin Luther King die Friedensbe­wegung in den USA begründete. Deren Vater nach der Ermordung Kings den gemeinsame­n Kampf gegen Rassismus und die Benachteil­igung der Schwarzen weiter vorantrieb und dafür mehr als drei dutzend Mal eingesperr­t wurde. Ein friedvolle­r Kämpfer, dessen Kinder ständig in der Angst vor Anschlägen und Übergriffe­n lebten.

Als kleines Mädchen kann Juandalynn nicht einfach im Garten hinter dem Haus in Montgomery, Alabama, spielen. An der Schule, die vorwiegend Weiße besuchen, wird sie ausgegrenz­t. Und auch als junge Frau bleibt Rassismus ihr täglich Brot. Etwas, das ihr schon in der Trennung zwischen Schwarz und

Bei der Wohnungssu­che wird ihre Hautfarbe zum Problem

Weiß permanent vor Augen geführt wird – im Bus mit abgeteilte­n Sektoren, ja selbst auf den Toiletten, dann der verheerend­e Bombenansc­hlag des Ku-Klux-Klan, den sie und ihre Schwestern nur durch viel Glück unbeschade­t überstehen.

Später, als sie schon in Konstanz am Bodensee lebt, wird sie von einem Hausmeiste­r körperlich angegriffe­n. Und schließlic­h dieser Wendepunkt ihres Lebens auf der Schwäbisch­en Alb, 1997, als sie und ihr Mann doch nichts anderes wollen, als eine Familie gründen.

Die Juandalynn Abernathy des Jahres 2020 hat mit dem Häufchen Elend von damals nichts mehr gemein: Klein und kräftig wuselt die 64-Jährige durch ihr Haus in Balingen, das auf halber Strecke zwischen Stuttgart und dem Bodensee liegt – nach einer abenteuerl­ichen Odyssee hat es dann doch noch geklappt mit einer Bleibe. Sie entschuldi­gt sich

ein Stück Wäsche, das nicht aufgeräumt ist, nennt ein winzig kleines bisschen Unordnung das „totale Chaos“. Dabei wirft sie ihr dunkles nackenlang­es Haar mehrfach nach hinten, ihre goldenen Armreife klirren. Wenn Abernathy lächelt, dann gibt ihr Mund große, weiße Zähne frei. Mit ihrer voluminöse­n Stimme füllt sie nicht nur das plüschige Wohnzimmer mit den großen Sesseln, sondern die Küche, den Flur und das obere Stockwerk gleich dazu. Nicht umsonst ist die ausgebilde­te Opernsänge­rin mehrfach ausgezeich­net worden. Und wenn sie lacht, dann vibriert die Luft und ihre drei Hunde im Garten beginnen zu bellen.

Im Treppenauf­gang zum ersten Stock hängen viele Bilder, die Stationen des bewegten Lebens der Sängerin zeigen. Und auf denen immer wieder ihr Vater Ralph zu sehen ist: Als Baptistenp­rediger vor einer Menschenme­nge. Als Vertrauter Kings, den Juandalynn Abernathy „Onkel Martin“nennt und dessen Patentocht­er sie ist.

Was man hinter den Erinnerung­en in Schwarz-Weiß nicht sieht, sind die komplizier­ten Lebensumst­ände, die Juandalynn Abernathy bis heute prägen. Und wenn sie an die Gegenwart denkt, schaudert sie und sagt: „Es ist wie eine Zeitreise.“In die Vergangenh­eit einer schlimmen Ära, als ihr Vater an der Seite von Martin Luther King mühsam für die Rechte von Afroamerik­anern kämpfen musste. „Damals gingen die Menschen auf die Straße, heute sie es wieder – und das ist wichtig!“, betont sie. Der Unterschie­d sei, dass es heute keine charismati­schen Führer in der Bewegung gebe wie ihren Vater oder eben King, der den Friedensno­belpreis für sein Engagement verliehen bekam, bevor er am 4. April 1968 von einem notorische­n Rassisten in Memphis, Tennessee, erschossen wurde.

Welche Kraft es kostet, welche Disziplin und welchen Mut, sich gegen die ungerechte­n Zustände aufzulehne­n, weiß Juandalynn Abernathy seit sie ein kleines Mädchen war. Sie erzählt eine Geschichte aus Atlanta, Georgia: Um sich nicht der erniedrige­nden Rassentren­nung zu unterwerfe­n, sollten die AbernathyK­inder beim Einkaufen nicht auf die Toilette gehen, die in Schwarz und Weiß eingeteilt war. Eines Tages sind sie im größten Kaufhaus Atlantas. Und Juandalynn­s kleiner Bruder muss dann doch. Wütend stürmt die Mutter mit dem Sohn auf die Straße und in ein Café in der Nähe. Der Vorfall bringt die starke Frau so aus der Fassung, dass sie sagt: „Jetzt ist Schluss!“

Wenig später organisier­t die Familie Proteste vor dem Kaufhaus. „Das müssen Sie sich mal vorstellen: Sie durften dort als farbiger Mensch zwar Kleider kaufen, aber vorher nicht anprobiere­n!“, ruft Juandalynn Abernathy und wirft die Hände in die Luft. Doch der Protest zeigt Wirkung: Kurz darauf schafft das Kaufhaus die getrennten Toiletten ab. Ein Mosaikstei­n im Kampf der noch sehr jungen Bürgerrech­tsbefür wegung und nur ein Erlebnis von vielen, das die kleine, starke Frau geprägt hat.

Ihren kämpferisc­hen Vater beschreibt sie als warmherzig­e, klare Person, als Menschenma­gnet. „Und er hat mir immer gesagt: Vergiss nie, dass du das erste Kind der Friedensbe­wegung bist.“

Die hässlichen Entwicklun­gen unter der Regierung von Donald Trump überrasche­n die heute 64-Jährige nicht: „Ich erinnere mich an ein Gespräch mit meinem Bruder“, sagt sie. Damals, als Barack Obama zum ersten dunkelhäut­igen Präsidente­n der USA gewählt worden ist und Juandalynn Abernathy jubelt, bremst er ihren Enthusiasm­us. „Ich fürchte, es wird jetzt erst so richtig schlimm“, habe er gesagt. Seine Angst: Das giftige Brodeln in den Herzen der rassistisc­hen Bevölkerun­gsteile, die Obama und seine Präsidents­chaft als Schmach empfanden. „Die haben mit dem Rassisten, Frauenfein­d und homophoben Trump ihr Ventil gefunden.“Und Trump habe dafür gesorgt, dass offen rassistisc­he Menschen sich jetzt frei fühlten, ihre Ablehnung und Menschenve­rachtung ungebremst und stolz ausleben könnten.

Was Juandalynn Abernathy früh stark und zuversicht­lich gemacht hat, ist ihr musikalisc­hes Talent. Ihre Eltern haben es konsequent gefördert, sodass sie es schafft, am renommiert­en Boston Conservato­ry of Music zu studieren. Stipendien und Tourneen führen sie auch nach Deutschlan­d, wo ihr Vater kurzzeitun tig als Soldat stationier­t war. Sie bleibt in Konstanz hängen. Als sie ihren zukünftige­n Mann kennenlern­t, bekommt er eine Berufung zum Stützpunkt Meßstetten, ganz in der Nähe von Balingen.

Dass Juandalynn Abernathy ihre negativen Anfangserf­ahrungen in der Kleinstadt auf der Schwäbisch­en Alb hinter sich lassen konnte – „es gab beinahe Verkehrsun­fälle, weil die Menschen mich so angestarrt haben“

Als sie in der Kirche singt, weinen die Menschen

–, verdankt sie einmal mehr ihrer imposanten Stimmgewal­t: Anfangs verfällt sie in eine Depression. Ihr Mann ist viel unterwegs. Sie verlässt nur selten das Haus in Balingen, zieht sich immer mehr zurück. Erst als ihr Sohn geboren wird, wendet sich das Blatt.

Bei der Taufe – die Baptistin ist inzwischen in die evangelisc­he Kirche eingetrete­n – besteht sie darauf, singen zu dürfen. Nicht ahnend, welches Kaliber er da vor sich hat, ist das Staunen beim Organisten während der ersten Probe grenzenlos. Bei der Zeremonie selbst rührt die Sängerin die Menschen in der voll besetzten Kirche zu Tränen. Wenig später gründet sie einen Gospelchor. Ein öffentlich­er Auftritt in Balingen sorgt dafür, dass dieser innerhalb weniger Jahre zum mitglieder­stärksten von ganz Baden-Württember­g aufsteigt, mit bis zu 150 Sängern.

Heute ist es ein wenig ruhiger um Juandalynn Abernathy geworden. Sie unterricht­et Gesangssch­üler, steht verschiede­nen Chören vor. Aber öffentlich­e Auftritte sind selten – vor allem so denkwürdig­e wie damals 1996 in Atlanta bei der Eröffnung der Olympische­n Spiele, als sie für die deutsche Delegation sang. Ein größeres Fernsehpub­likum erreichte sie nur im vergangene­n Jahr, als sie bei der TV-Castingsho­w „The Voice senior“auftrat. Ein klein wenig Wehmut schwingt dann doch mit, wenn sie davon erzählt, dass man sie mit klassische­m Gesang, den sie schließlic­h studiert habe, weniger assoziiert als mit Gospel oder Spiritual. „Es gibt nur noch sehr wenige Schüler, die klassische­n Gesang lernen wollen“, erklärt sie. „Im Augenblick habe ich keinen einzigen.“

Eine Rückkehr in die Vereinigte­n Staaten – obwohl dort große Teile der Familie leben – kommt für Juandalynn Abernathy aber nicht infrage. Gerade auch wegen des vorherrsch­enden Rassismus dort, der ja nie weg gewesen sei, nun aber neu und hässlich aufblühe. Was sie besonders verstört: „Wissen Sie, es gibt Verwandte, die Trump wählen“, sagt sie nachdenkli­ch. „Wahrschein­lich bleibe ich auch deswegen hier, weil ich mich diesen ganzen Dingen nicht mehr aussetzen möchte.“Jenen Ungerechti­gkeiten und Benachteil­igungen, gegen die schon ihr Vater Ralph sein Leben lang gekämpft hat. Und die Onkel Martin sogar das Leben kosteten.

 ?? Foto: Christian Flemming ?? In ihrem Haus in Balingen hat Juandalynn Abernathy Bilder von denen aufgereiht, die ihr Leben geprägt haben – darunter auch ihr Vater Ralph (links unten). An der Seite ihres Patenonkel­s Martin Luther King hat er die Friedensbe­wegung in den USA begründet.
Foto: Christian Flemming In ihrem Haus in Balingen hat Juandalynn Abernathy Bilder von denen aufgereiht, die ihr Leben geprägt haben – darunter auch ihr Vater Ralph (links unten). An der Seite ihres Patenonkel­s Martin Luther King hat er die Friedensbe­wegung in den USA begründet.

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