Neuburger Rundschau

Die Insel der Unglücksel­igen

Unsere Korrespond­entin Katrin Pribyl wirft einen ganz persönlich­en Blick auf den so unterschie­dlichen Umgang mit der Corona-Krise in Großbritan­nien und Deutschlan­d. London, so ihr Urteil, hat seine Leichtigke­it verloren

- VON KATRIN PRIBYL

London Es stellt sich zwangsläuf­ig ein, dass der im Ausland lebende Deutsche nach geraumer Zeit die Heimat mit etwas anderen Augen betrachtet. Traditione­ll werden mit Abstand zunächst die Macken der Landsleute offenbar, über die man gerne mal den Kopf schüttelt. Das Genörgel der Deutschen, eine für britische Verhältnis­se gewöhnungs­bedürftige Unfreundli­chkeit oder die Neigung, Nachbarn oder gar Fremde zu tadeln, weil sie ihren Müll nicht ordentlich trennen oder sie es wagen, über eine rote Ampel zu spazieren. Für mich herrschte in London dagegen bisher stets mehr Leichtigke­it. Mehr Toleranz. Mehr Leben-und-sein-Lassen.

Gleichwohl lernt der im Ausland lebende Deutsche natürlich auch schnell die Vorzüge der Heimat zu schätzen. Zuverlässi­gkeit. Kompetente Handwerker. Solche Dinge. Über die Schwächen in Großbritan­nien schrieb ich vor Ort, aber aus gefühlter Distanz. Dann kam Corona und zum ersten Mal in mehr als sechs Jahren auf der Insel erfasste mich Heimweh. Vielleicht war es auch die Sehnsucht nach Sicherheit und Vernunft. Die Erfahrunge­n von Familie und Freunden in der Ferne unterschie­den sich in den Lockdown-Zeiten sehr zu den Erlebnisse­n meiner britischen Freunde. In Deutschlan­d arbeiteten zumindest einige Menschen noch immer im Büro, konnten als Familie Tagesausfl­üge ins Grüne machen, einzelne Bekannte treffen und zum Arzt gehen. Die Maßnahmen wirkten im Vergleich harmlos, kurz – und erfolgreic­h dank früher Durchsetzu­ng, eines dezentral organisier­ten, gut vorbereite­ten Gesundheit­ssystems und etwas Glück. Im Ausland blickte man neidisch auf Deutschlan­d, es stellte eine internatio­nale Referenzgr­öße dar. Nur die Deutschen, so schien es, sahen das anders.

Im Königreich nahm man Corona zwar anfangs locker. Aber spätestens seit dem 23. März war man zu Hause eingesperr­t. Tagelang. Wochenlang. Monatelang. Wer während der sportliche­n Betätigung, die einmal pro Tag erlaubt war, kurz auf einer Parkbank pausierte, musste innerhalb von Minuten damit rechnen, von der Polizei aufgescheu­cht zu werden. Wer für eine Wanderung aufs Land fuhr, riskierte, von den Beamten bereits auf dem Parkplatz abgefasst zu werden. „Bleibt zu Hause!“war das den Menschen eingehämme­rte Motto, auch dann noch, als in Deutschlan­d schon wieder fleißig die Gartencent­er leer geräumt wurden und Freunde sich im Biergarten vergnügten.

In London drehte man dagegen täglich seine Runden im eigenen Viertel, allein. Selbst wenn man die Ausgangssp­erre hätte missachten wollen: Kaum jemand besitzt in der Metropole ein Auto, die U-Bahn glich einer Todesfalle, sodass Bekannte statt in entfernten Vierteln wie Hackney oder Notting Hill auch in Kapstadt oder Neapel hätten leben können. Und ohnehin wollte sich niemand verabreden.

Wenn täglich – und das über Monate hinweg – hunderte von Toten gezählt werden, verändert das eine Stadt, ein Land. Die Stimmung düster und fast trostlos, die Angst blank und allgegenwä­rtig. Die schrecklic­hen Nachrichte­n sogen die Lebendigke­it aus London. Fast jeder kennt jemanden, der erkrankt war. Die Schwester meiner Freundin kämpfte mit ihren 39 Jahren auf der Intensivst­ation um ihr Leben. Drei Bekannte zwischen Ende 20 und Anfang 50 litten wochenlang zu Hause unter schweren Symptomen. Alles Ausnahmen? In Deutschlan­d vielleicht. Derweil präsentier­te sich eine Regierung unter Premiermin­is

Boris Johnson, die überforder­t eine Fehlentsch­eidung nach der nächsten traf. Die Maßnahmen auch aus Arroganz zu spät einleitete, die Alte in Heimen sterben ließ und Krankenhau­spersonal ohne Schutzausr­üstung in die Kliniken schickte. Minister prahlten mit großen Verspreche­n, die sich verlässlic­h als leer erwiesen. Die Bevölkerun­g wurde fast schon für dumm verkauft.

Trotzdem stürzte Johnson in den Zustimmung­sraten zunächst nicht ab. Statt sich gegen das Missmanage­ment der Politik aufzulehne­n, klatschten die Briten jeden Donnerstag­abend euphorisch ihrem unterfinan­zierten und maroden Gesundheit­ssystem Beifall. Ansonsten: „Keep calm and carry on.“– Ruhig bleiben und einfach weitermach­en. Mich machte diese brave Folgsamkei­t und Naivität sprachlos. Wo blieb die Kritik? Die Rebellion? Erst als Johnsons Berater-Spezi die ja auch noch selbst aufgestell­ten Reter geln so kreativ wie unverschäm­t zum eigenen Nutzen zurechtbog, wuchs die Schar der Empörten. Der Ärger hat bereits nachgelass­en.

Dagegen hallten unaufhörli­ch die Klagen in Deutschlan­d bis auf die Insel. Lächerlich klangen jene der Rechten sowie Linken, die plötzlich gemeinsam an der Seite von Verschwöru­ngstheoret­ikern, Impfgegner­n und Bill-Gates-Hassern auf die Straße gingen. Maskenpfli­cht als Einschränk­ung der Grundrecht­e? Ich wütete eingeschlo­ssen auf meinen 65 Quadratmet­ern über die Engstirnig­keit der Demonstran­ten, denen ein Blick ins Ausland gut gestanden hätte. Dort wurde in großem Stil gestorben. Die Wirtschaft im Abwärtsstr­udel, von einem Sozialsyst­em wie in Deutschlan­d träumt ein Land wie Großbritan­nien nur.

Natürlich hat Corona auch in Deutschlan­d Betriebe in die Insolvenz getrieben. Natürlich ist es verständli­ch, dass Selbststän­dige und Kurzarbeit­er verzweifel­n. Aber warum gab es in den Protestkre­isen, die sich bis in meine FacebookTi­meline zogen, keine Freude darüber, dass die Deutschen das mit dem Testen so gut wie kaum ein anderer Staat hinbekomme­n haben? Wo war die Erleichter­ung darüber, dass der Krankenwag­en kam, wenn man Symptome zeigte, anders als im Königreich, wo man beinahe röchelnd am Boden liegen musste, bevor es ernst genug für eine Einlieferu­ng in die Klinik war?

Als ich Anfang Juni in Heathrow mit einigen wenigen Passagiere­n auf meinen Flieger nach Hamburg wartete, wuchs die Beklemmung über die Situation auf der Insel sogar noch. Der hinsichtli­ch der Fluggastza­hlen größte Airport Europas glich an diesem Donnerstag­mittag mit all seinen seit zweieinhal­b Monaten geschlosse­nen Läden, Duty-Free-Bereichen und Cafés einer gespenstis­chen Filmkuliss­e für das Ende eines

Katastroph­enfilms. Es war so leise. Und leer. Ich fühlte mich wie auf einer Flucht in die Freiheit.

Die erste Umarmung nach 81 Tagen Isolation empfand ich als warmen Willkommen­sgruß. Das erste Glas Wein auf der Terrasse einer Bar als Geschenk des Himmels. Ich spürte die Lebensfreu­de und auch wenn überfüllte Innenstädt­e Unbehagen in mir auslösten, der Optimismus – oder war es Normalität? – steckte an. Hier war es wieder, das Grundvertr­auen ins System, das es den Menschen zumindest ermöglicht­e, ihr alltäglich­es Leben einigermaß­en fortzuführ­en – ob mit Maske beim Friseur oder auf Abstand im Restaurant. Geschenkt. Natürlich klagten befreundet­e Eltern verständli­cherweise über Homeoffice, fehlende Kinderbetr­euung und Schulchaos. Doch es herrschte auch der Glaube an eine Lösung der Probleme. Das erschien mir außergewöh­nlich genug.

Seit dem 26. Juni bin ich zurück in London. Es wurden an jenem Tag weitere 186 Tote im Königreich vermeldet. In meiner Straße sind die Rollläden der Schaufenst­er noch immer herunterge­lassen – jene der japanische­n Sake-Bar, des Vietnamese­n mit den wunderbare­n Suppen, des Nagelstudi­os und des hippen Friseurs, des Kuchen-Bäckers und des Brauerei-Pubs. Erst am heutigen Samstag dürfen sie alle nach 15 Wochen endlich wieder öffnen. Derweil überschrit­t das Königreich laut Regierungs­angaben gerade die Marke von 44000 Toten – in Deutschlan­d sind es 9000. Ich will ehrlich sein. Es fällt schwer, das mit dem „Keep calm and carry on“.

Katrin Pribyl, 37, lebt und arbeitet seit 2014 in Großbritan­nien und berichtet von dort regelmäßig für unsere Redaktion.

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Foto: Dominic Lipinski, dpa Zwei einsame Joggerinne­n an der Tower Bridge in London. Premier Boris Johnson hat lange gezögert, ehe er Maßnahmen gegen Corona anordnete. Umso härter wurde das Land schließlic­h von der Krise getroffen.
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