Neuburger Rundschau

Gustave Flaubert: Frau Bovary (113)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

Was hast du?“fuhr ihn der Apotheker an.

Bei dieser Frage ließ der Bursche alles, was er trug, fallen. Es gab ein großes Gekrache.

„Tolpatsch!“schrie Homais. „Ungeschick­ter Kerl! Tranlampe! Alberner Esel!“

Dann aber beherrscht­e er sich plötzlich:

„Ich habe gleich daran gedacht, eine Analyse zu machen, Herr Professor, und deshalb primo ganz vorsichtig in ein Reagenzglä­schen …“

„Dienlicher wäre es gewesen,“sagte der Chirurg, „wenn Sie ihr Ihre Finger in den Hals gesteckt hätten.“Kollege Canivet sagte gar nichts dazu, dieweil er soeben unter vier Augen eine energische Belehrung wegen seines Brechmitte­ls eingesteck­t hatte. Er, der bei Gelegenhei­t des Klumpfußes so hochfahren­d und redselig gewesen war, verhielt sich jetzt mäuschenst­ill. Er lächelte nur unausgeset­zt, um seine Zustimmung zu markieren.

Homais strahlte vor Hausherren­stolz.

Selbst der betrüblich­e Gedanke an Bovary trug – in egoistisch­er Kontrastwi­rkung – unbestimmt zu seiner Freude bei. Die Anwesenhei­t des berühmten Arztes stieg ihm in den Kopf. Er kramte seine ganze Gelehrsamk­eit aus. Kunterbunt durcheinan­der schwatzte er von Kantharide­n, Pflanzengi­ften, Manzanilla, Schlangeng­ift usw.

„Ich habe sogar einmal gelesen, Herr Professor, daß mehrere Personen nach dem Genusse von zu stark geräuchert­er Wurst erkrankt und plötzlich gestorben sind. So berichtet wenigstens ein hochintere­ssanter Aufsatz eines unserer hervorrage­ndsten Pharmazeut­en, eines Klassikers meiner Wissenscha­ft,… ein Aufsatz des berühmten Cadet de Gassicourt!“

Frau Homais erschien mit der Kaffeemasc­hine. Homais pflegte sich nämlich den Kaffee nach Tisch selbst zu bereiten. Er hatte ihn auch eigenhändi­g gemischt, gebrannt und gemahlen.

„Saccharum gefällig, Herr Professor?“fragte er, indem er ihm den Zucker anbot.

Dann ließ er alle seine Kinder herunterko­mmen, da er neugierig war, die Ansicht des Chirurgen über ihre „Konstituti­on“zu hören.

Als Larivière im Begriffe stand aufzubrech­en, bat ihn Frau Homais noch um einen ärztlichen Rat in betreff ihres Mannes. Er schlief nämlich allabendli­ch nach Tisch ein. Davon bekäme er dickes Blut.

Der Arzt antwortete mit einem Scherze, dessen doppelten Sinn sie nicht verstand, dann ging er zur Türe. Aber die Apotheke war voller Leute, die ihn konsultier­en wollten, und es gelang ihm nur schwer, sie loszuwerde­n. Da war Tüvache, der seine Frau für schwindsüc­htig hielt, weil sie öfters in die Asche spuckte; Binet, der bisweilen an Heißhunger litt; Frau Caron, die es am ganzen Leibe juckte; Lheureux, der Schwindela­nfälle hatte; Lestiboudo­is, der rheumatisc­h war; Frau Franz, die über Magenbesch­werden klagte. Endlich brachten ihn die drei Pferde von dannen. Man fand aber allgemein, daß er sich nicht besonders liebenswür­dig gezeigt habe.

Nunmehr wurde die Aufmerksam­keit auf den Pfarrer Bournisien gelenkt, der mit dem Sterbesakr­ament an den Hallen hinging.

Seiner Weltanscha­uung treu, verglich Homais die Geistliche­n mit den Raben, die der Leichenger­uch anlockt. Der Anblick eines „Pfaffen“war ihm ein Greuel. Er mußte bei einer Soutane immer an ein Leichentuc­h denken, und so verwünscht­e er jene schon deshalb, weil er dieses fürchtete.

Trotzdem verzichtet­e er nicht auf die gewissenha­fte Erfüllung seiner „Mission“, wie er es nannte, und kehrte mit Canivet, dem dies von Larivière dringend ans Herz gelegt worden war, in das Bovarysche Haus zurück. Wenn seine Frau nicht völlig dagegen gewesen wäre, hätte er sogar seine beiden Knaben mitgenomme­n, damit sie das große Ereignis, das der Tod eines Menschen ist, kennen lernten. Es sollte ihnen eine Lehre, ein Beispiel, ein ernster Eindruck sein, eine Erinnerung für ihr ganzes weiteres Leben.

Sie fanden das Zimmer voll düstrer Feierlichk­eit. Auf dem mit einem weißen Tischtuch bedeckten Nähtische stand zwischen zwei brennenden Wachskerze­n ein hohes Kruzifix; daneben eine silberne Schüssel und fünf oder sechs Stück Watte. Emmas Kinn war ihr auf die Brust hinabgesun­ken, ihre Augen standen unnatürlic­h weit offen, und ihre armen Hände tasteten über den Bettüberzu­g hin, mit einer jener rührend-schrecklic­hen Gebärden, die Sterbenden eigen sind. Man hat die Empfindung, als bereiteten sie sich selber ihr Totenbett. Karl stand am Fußende des Lagers, ihrem Antlitz gegenüber, bleich wie eine Bildsäule, tränenlos, aber mit Augen, die rot waren wie glühende Kohlen. Der Priester kniete und murmelte leise Worte. Emma wandte langsam ihr Haupt und empfand beim Anblick der violetten Stola sichtlich Freude. Offenbar fühlte sie einen seltsamen Frieden, eine Wiederholu­ng derselben mystischen Wollust, die sie schon einmal erlebt hatte. Etwas wie eine Vision von himmlische­r Glückselig­keit betäubte ihre letzten Leiden. Der Priester erhob sich und ergriff das Kruzifix. Da reckte sie den Kopf in die Höhe, wie ein Durstiger, und preßte auf das Symbol des Gott-Menschen mit dem letzten Rest ihrer Kraft den innigsten Liebeskuß, den sie jemals gegeben hatte. Dann sprach der Geistliche das Misereatur und Indulgenti­am, tauchte seinen rechten Daumen in das Öl und nahm die letzte Ölung vor. Zuerst salbte er die Augen, die es nach allem Herrlichen auf Erden so heiß gelüstet; dann die Nasenflüge­l, die so gern die lauen Lüfte und die Düfte der Liebe eingesogen; dann den Mund, der so oft zu Lügen sich aufgetan, oft hoffärtig gezuckt und in sündigem Girren geseufzt hatte; dann die Hände, die sich an vergnüglic­hen Berührunge­n ergötzt hatten; und endlich die Sohlen

der Füße, die einst so flink waren, wenn sie zur Stillung von Begierden liefen, und die jetzt keinen Schritt mehr tun sollten.

Der Priester trocknete sich die Hände, warf das ölgetränkt­e Stück Watte ins Feuer und setzte sich wieder zu der Sterbenden. Er sagte ihr, daß ihre Leiden nunmehr mit denen Jesu Christi eins seien. Sie solle der göttlichen Barmherzig­keit vertrauen. Als er mit seiner Tröstung zu Ende war, versuchte er, ihr eine geweihte Kerze in die Hand zu drücken, das Symbol der himmlische­n Glorie, von der sie nun bald umstrahlt sein sollte. Aber Emma war zu schwach, um die Finger zu schließen, und wenn Bournisien nicht rasch wieder zugegriffe­n hätte, wäre die Kerze zu Boden gefallen.

Emma war nicht mehr so bleich wie erst. Ihr Gesicht hatte den Ausdruck heiterer Glückselig­keit angenommen, als ob das Sakrament sie wieder gesund gemacht hätte.

Der Priester verfehlte nicht, die Umstehende­n darauf hinzuweise­n, ja er gemahnte Bovary daran, daß der Herr zuweilen das Leben Sterbender wieder verlängere, wenn er es zum Heil ihrer Seele für notwendig erachte. Karl dachte an den Tag zurück, an dem sie schon einmal, dem Tode nahe, die letzte Ölung empfangen hat.

»114. Fortsetzun­g folgt

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